Torstraße 1
Lichtgirlanden herab, die ganze Halle ist in Glitzern und Funkeln getaucht.
Ein paar Stockwerke höher herrscht düstere Stimmung. Heinrich Grünberg legt den Brief beiseite und denkt an sein Gespräch mit Dr. Haberland von der staatlichen Handelskammer. Der hat ihm vor zwei Wochen mit gesenkter Stimme geraten, man möge bis zum Ende des Monats einen den neuen Verhältnissenentsprechenden Geschäftsführer ernennen, der die Belange der Firma gegenüber Behörden und Öffentlichkeit vertritt. Einen Parteianhänger und Angestellten aus dem Unternehmen, wenn möglich. Er meine es nur gut mit ihm, dem früheren Kommilitonen. Er solle seinen Rat annehmen. »Und wenn nicht?« Dann könne er leider für nichts garantieren. Die Warenhäuser seien den aufrechten Deutschen seit Langem ein Dorn im Auge, wie er wohl wisse. Sie könnten froh sein, solange man sie noch bestehen ließe.
Das Ende des Monats ist vorübergegangen, ohne dass Heinrich Grünberg sich hat durchringen können, einen Teil der Unternehmensführung aus den Händen zu geben. Es ist schließlich ein Familienunternehmen. Und genau darin liegt das Problem. In seiner Familie ist ein den neuen Verhältnissen entsprechender Kandidat nicht aufzutreiben. »Ganz einfach«, hat sein Schwager gesagt, »ihr braucht einen Vorzeigegoj wie wir alle. Wir haben seit Jahren einen, er kann nicht viel, aber ist strohblond in Erscheinung und Gesinnung. Ist ja nur für die Außenwirkung, der Boss bleibst doch trotzdem du!« Heinrich war davon nicht überzeugt. Doch das schlagende Argument ist heute als Schreiben von der Bank gekommen: Der Kredit bei der Hausbank, ohne den kein Unternehmen mehr überleben kann, ist bis auf Weiteres gekündigt.
Heinrich Grünberg lässt seinen Verkaufsleiter Gerd Helbig zu sich rufen. Ob er sich vorstellen könne, die Geschäftsführung zu übernehmen? Helbig sagt mit unbewegter Miene zu. Offenbar kann er es sich nicht nur vorstellen, sondern hat seit Langem nichts anderes erwartet.
Chaja verabschiedet sich von Elsa am Eingang des Jonass, wo Vicky auf sie wartet. Elsa fällt Vicky um den Hals. Mama ist aufgeregt und fröhlich und so wunderschön. Sie trägt einen Rock und eine Bluse mit einem Schild, da steht JONASS drauf,liest Mama ihr vor. Bernhard ist auch gekommen. Sie darf mit Bernhard im Kaufhaus spielen! Sie gehen in Mamas Abteilung, die kennt sie schon gut, überall hängen neue Kleider und Mäntel an den Ständern.
»Ich muss noch etwas erledigen«, sagt Mama und streicht ihr und Bernhard über den Kopf. »Wenn ihr schön brav hier spielt, dürft ihr nachher bei den Spielwaren etwas aussuchen.« Mama schaut Bernhard ernst ins Gesicht. »Pass gut auf Elsa auf, du bist doch schon ein großer Junge.« Dann ist sie verschwunden.
Bernhard und sie stehen schweigend zwischen den Kleiderständern und wissen nicht, was sie anfangen sollen. Dann hat Elsa eine Idee. »Mach die Augen zu«, sagt sie und ist schon verschwunden. Sie huscht durch die Reihen der Kleiderständer und versteckt sich zwischen zwei Mänteln.
Nach einer Weile hört sie Bernhard rufen. »Elsa, wo bist du?«
Dummerweise muss sie kichern, als sie ihn so besorgt nach ihr rufen hört. Sie hält die Hand vor den Mund und presst das Gesicht gegen den Mantel, der vor ihr hängt. Aber das Kichern hört nicht auf. Da kommt Bernhard angelaufen und zieht die Mäntel auseinander. »Jetzt ich!«, ruft er.
Eine Weile ist das Spielen schön, aber irgendwann, als sie Bernhard nicht findet, wächst eine schreckliche Angst in ihrem Bauch. Kein Mensch ist mehr zu sehen, die Lichter sind fast alle ausgegangen, und es ist so still. Vielleicht hat das Jonass geschlossen, und alle Leute sind schon nach Hause gegangen. Hat ihre Mama sie vergessen? Laut ruft sie nach ihr, doch niemand antwortet. Sie fängt an zu weinen. Endlich kommt Bernhard hinter einer Säule hervor. Erschrocken schaut er sie an.
»Meine Mama ist weg.« Sie kann nicht aufhören zu heulen.
Bernhard nimmt sie bei der Hand. »Wir suchen sie.« Hand in Hand laufen sie durch die Gänge zwischen den Kleiderstangen, niemand ist da. Auch Bernhard sieht ängstlich aus, seine Hand ist ganz kalt.
Dann hört sie ein Geräusch aus einer der Kabinen, vor denen ein Vorhang hängt, und geht hin. Ein komisches, unheimliches Geräusch. Als ob jemand etwas schrecklich wehtut – und dann auch wieder nicht. Aber es ist doch Mamas Stimme! »Mama!«, schreit sie, läuft auf die Kabine zu, bleibt stehen. Irgendwas stimmt nicht. Sie darf da jetzt
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