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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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verprügeln, weil sie jüdisch aussahen? Die Scheiben der teuren Geschäfte einschlagen – und das im vornehmen Westen? Und sie hat sich währenddessen mit Harry im Kaufhaus vergnügt!
    »Au! Passen Sie doch auf, Fräulein!« Schnell zieht Vicky die Nadel aus dem Stoff und entschuldigt sich bei der Dame. Ausgerechnet eine von der feineren Sorte. Wenn die mal nicht gleich nach dem Chef ruft, um sich zu beschweren. »Gibt es hier kein Lichtzimmer wie im Kaufhaus des Westens?«, will die Dame wissen. »Um die Wirkung bei festlicher Beleuchtung zu prüfen!« Wie soll die Wirkung schon sein, wenn man keinerlei Taille hat, denkt Vicky und schüttelt bedauernd den Kopf. »Ach ja«, seufzt die Dame, »hier ist eben nicht der Kurfürstendamm, nicht? Haben Sie übrigens gehört … Na, dem Kurfürstendamm hat man einen Denkzettel verpasst!« Sie lächelt zufrieden. »Scheint ja komplett in jüdischer Hand zu sein. Diese Blutsauger schröpfen uns bis aufs Hemd. Denken Sie nur an all die Warenhäuser: Wertheim, Kaufhaus des Westens, Landauer!«
    »Jonass«, fügt Vicky hinzu.
    »Was, die auch?« Die Dame schaut entsetzt.
    »Wollen Sie das jüdische Kleid trotzdem haben?«
    Die Dame betrachtet sich wohlgefällig im Spiegel. »Jawohl, aber nur mit Preisnachlass. Schließlich hätten Sie mir fast in den Hals gestochen! Wo finde ich den Geschäftsführer?« Nirgends, hofft Vicky, so falsch, wie sie der Dame den Weg beschreibt.
    Zum Mittagessen gehen Elsie und Vicky in die Imbisshalle des Kaufhauses. Sie reihen sich in die Schlange vor der Glastheke ein. »Bitte bedienen Sie sich selbst und zahlen an der Kasse«, steht auf dem Schild. Sie finden einen Tisch direkt an der Glasfront zur Straße. »Wenn das hier doch das KaDeWe wäre«, seufzt Elsie nicht zum ersten Mal. »Da liegen die Verkäuferinnen mittags im Deckchair auf der Dachterrasse.«
    »Und dämliche Damen kriegen im Lichtzimmer ein paar Sekunden lang ein helles Köpfchen.« Die Erbsen und Möhren kullern Vicky von der Gabel, als sie ihrer Freundin von der Kundin erzählt und vom Ku’damm. »Sieht Elsa eigentlich jüdisch aus?«, flüstert sie Elsie ins Ohr.
    »Meinst du wegen ihrer enormen Hakennase?«, flüstert Elsie zurück. »Ich wollte dich ja nicht darauf ansprechen, aber …«
    Die Grünbergs haben sich an der langen Tafel versammelt. Auch wenn der zweite Tag des jüdischen Neujahrsfests für reformierte Juden wie sie kein Feiertag ist, haben sich heute alle Familienmitglieder zu Hause eingefunden. Der letzte Gang ist abgetragen, zu fünft sitzen sie um den Tisch und schweigen. »Das wird ein böses Jahr!«, sagt Alice Grünberg in die Stille hinein. »Kein Wunder, wo wir Juden in dieser Stadt ein so gottloses Leben führen!«
    »Jetzt sollen wir wohl wieder selbst an allem schuld sein?« Carola wirft ihrer Mutter einen zornigen Blick zu. Auf einer großen Platte in der Mitte des Tischs stehen die Süßigkeiten zu Rosch ha-Schana. Niemand rührt sie an außer Gertrud, die einen inHonig gebackenen Apfelschnitz nach dem anderen in den Mund schiebt. Minutenlang ist nur Gertruds Schmatzen zu hören.
    »Jetzt hör schon auf damit!«, fährt Harry seine jüngste Schwester an. »Du bist dick genug für dein Alter!«
    »An deiner Stelle wär ich lieber still«, erwidert Gertrud kauend und wirft einen Blick auf ihre Mutter, die mit verschwollenen Lidern in die Ferne starrt. Nun schaut auch Heinrich von der Zeitung auf und seinen Sohn an.
    »Wo warst du gestern, als der Anruf von Rosenfelds kam? Alice ist vor Angst fast gestorben, weil du mitten in der Nacht nicht in deinem Bett lagst.«
    »Wahrscheinlich in einem anderen Bett«, prustet Gertrud los, und die Apfelstückchen fliegen auf die Tischdecke.
    Ob es am Brand des Reichstags lag, den verkohlten Balken und rußgeschwärzten Mauern, am Feuer, das, längst verloschen, noch immer im Zentrum der Stadt zu lodern schien? An den braunen Uniformen und blutroten Fahnen, vor denen es kein Entkommen mehr gab in den Straßen? Vielleicht strömten die Menschen aus Sehnsucht nach kühlem, unschuldigem Weiß in Scharen in die Warenhäuser, die zu den Weißen Wochen dekoriert hatten. »Ich glaube eher, es liegt am Rabatt«, meint Elsie, die neben Vicky in der Eingangshalle des Jonass steht. »Und an unserer eiskalten Dekoration.« Es ist aber auch zu prächtig geworden! Mit weißem Stoff abgedeckte Tische, auf denen sich weiße Wäscheberge stapeln, Laken, Tischwäsche, Gardinen, Miederwaren. Von der Decke hängen weiße

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