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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Palästina!«
    Gelächter schallt aus der Menge. Vicky spürt einen brennenden Schmerz auf der Wange. Elsa hat ihr mit der kleinen Faust ins Gesicht geschlagen. »Weg, Mama, weg!«, schreit sie, ganz rot im Gesicht. Vicky dreht sich um, weg von dem Tor, weg von dem Plakat, weg von den Gestiefelten, dem Gelächter. Den ganzen Weg bis nach Hause legt sie mit Elsa auf dem Arm im Laufschritt zurück, auch die Stufen hoch zu ihrer Wohnung. Sie schließt die Wohnungstür zweimal ab, erst dann lässt sie Elsa vom Arm. Die flüchtet fort von ihr in die hinterste Ecke des Zimmers. Elsa … Sie wissen es nicht, aber sie haben mit dem Gebrüll, dem Gelächter auch Elsa gemeint. Sie dürfen es nie erfahren!
    Heinrich und Harry Grünberg gehen im Kaufhaus Jonass in ihrem Kontor auf und ab. Sie sind allein in dem achtstöckigen Gebäude. Das Hauptportal ist verriegelt, SA steht davor. Die Mitarbeiter, die morgens am Nebeneingang eingetroffen sind, haben sie nach Hause geschickt. Es sind längst nicht alle zur Arbeit erschienen. Gerd Helbig hat angeboten, mit Grünbergs dazubleiben. Er schien erleichtert, als Heinrich ihm zu verstehen gab, dass dies nicht nötig sei. Auch Vicky ist nicht gekommen, denkt Harry. Dann fällt ihm wieder ein, was Gerald ihm neulich erzählt hat. Dass er Vicky in einem teuren Restaurant gesehen hat, wo sie mit einem blonden, bebrillten Herrn zu Abend aß.
    »Wir können von Glück sagen, dass es uns nicht wie HermannTietz ergangen ist«, sagt Heinrich in Harrys Gedanken hinein. »Erst hat man ihm den zugesagten Kredit über vierzehn Millionen gesperrt, dann die drei Geschäftsführer ins Adlon bestellt, um einen Entschuldungsplan vorzulegen.« Heinrich lacht auf. »Zur Begrüßung nahm man ihnen die Pässe ab. Kalte Enteignung nennt man das, und das Reichswirtschaftsministerium hat alles gedeckt. Nun hat dieser Karg das Sagen bei Tietz. Ob sich Hermann Tietz das hat träumen lassen, als er ihn damals als Textilverkäufer eingestellt hat?«
    »Unser Helbig hat auch mal klein angefangen«, erinnert Harry ihn. Er schaut aus dem Fenster und zieht die Gardine wieder vor. »Tja, leider konnten wir’s auch nicht machen wie andere und am Vortag des Boykotts vorsorglich alle jüdischen Mitarbeiter feuern. Wir hätten uns selbst kündigen müssen…«
    »Dr. Rosenfeld wurde von der Klinik auch schon entlassen«, sagt Heinrich und seufzt. Dann greift er zum Telefonhörer, wählt und legt wieder auf. »Wo Alice und die Mädchen bloß stecken?«
    An so einem Tag sollte man zu Hause bleiben, hat Alice Grünberg gemeint. Und als sie sich dem Lustgarten nähern, wird Alice klar, dass ihrer Tochter Carola keineswegs nach einem harmlosen Nachmittagsspaziergang zumute gewesen war. Der Platz zwischen Altem Museum und Dom ist voller Menschen. Einige tragen Transparente und Schilder, die sie als Warenhausmitarbeiter ausweisen. Sie sind hier, um gegen ihre jüdischen Arbeitgeber und Kollegen zu demonstrieren.
    Alice Grünberg bleibt am Rand des Platzes stehen und stützt sich auf ihre jüngere Tochter Gertrud. Carola holt ein Fernglas aus der Tasche und lässt es über die Menge schweifen. »Wollen doch mal sehen, ob wir hier feine Bekannte treffen!« Aufgeregt zeigt sie hier und da in die Menge. »Da! Die Riedel von der Poststelle! Die Kurz! Der Thienemann!« Ein Polizist kommt aufCarola zu und fordert sie auf, das Fernglas einzustecken. »Seit wann sind Ferngläser verboten?«
    Auf der Heimfahrt im Taxi spricht keine ein Wort. Alice und Carola schauen in unterschiedliche Richtungen aus dem Fenster, in ihrer Mitte verspeist Gertrud belegte Brötchen. Erst zu Hause, als Alice die Haustür hinter ihnen verschlossen hat und in den Sessel neben dem Telefon sinkt, sagt Carola leise: »Ihr hättet es mir ja sonst nicht geglaubt.«
    Vicky holt den Brief zum zehnten oder zwölften Mal aus der Handtasche. Und wenn sich doch jemand einen dummen Scherz mit ihr erlaubt? »Sehr verehrtes Fräulein Vicky, ich möchte Sie höflichst einladen, am 31. August um 20 Uhr 30 ein Souper im ›Haus Vaterland‹ mit mir einzunehmen. Sie würden mir mit Ihrem Kommen größte Freude bereiten. Ich erwarte Sie in der Galerie No. 5 mit Blick auf den Saal. Ein treuer Verehrer.« Der Brief ist vor einer Woche gekommen, mit der Maschine geschrieben und ohne Absender. »Der ist von Helbig«, hat Elsie ohne zu zögern gemeint, als Vicky ihr den Brief zu lesen gab. »Er will dir einen Antrag machen.« Sie hofft es nicht, aber wer sollte es sonst sein?

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