Torstraße 1
Vielleicht ein Millionär oder Filmstar, der sie im Jonass gesehen und sich unsterblich in sie verliebt hat …
»Träum weiter«, sagt Elsie, die hinter ihr im Spiegel aufgetaucht ist, während sie Puder und Lippenstift aufträgt. »Und falls du nicht zurückkommst, vergiss nicht, mir und Klein-Elsa aus Monte Carlo oder Hollywood Schecks zu schicken.«
Vicky wird unter dem hellen Puder noch blasser. »Red keinen Quatsch. Da müsste man mich schon ermorden, ehe ich Elsa im Stich lasse.«
Auf dem Weg zum Potsdamer Platz schnürt sich ihr vor Ärger die Kehle zu. Ja, das denkt er sich vielleicht, der Helbig, dass sie ihn gleich heiratet, nur weil er jetzt Geschäftsführer ist und sieein paarmal mit ihm essen oder im Konzert war. Gut, er hat sich anständig verhalten, sie nicht spüren lassen, dass er sie wegen der neuen Machthaber und seiner Stellung im Kaufhaus in der Hand hat. Sie haben sich sogar ganz gut unterhalten, wenn es nicht gerade um Politik ging. Aber trotzdem, was bildet er sich ein? Ist sie jetzt preisreduzierte Ware der vorletzten Kollektion, die froh sein kann, einen Abnehmer zu finden?
Bei dem Gedanken an Kleider und Kollektionen wird Vicky flau. Das pfauenblaue Abendkleid, das sie trägt, ist neueste Kollektion und von Jonass und Co. »geliehen«. Aber sie wird es ja morgen als Erstes zurück an seinen Platz hängen. Nur um Himmels willen nicht kleckern! Ihre besten Sachen hat sie zu Hause anprobiert, nichts ist ihr gut genug erschienen fürs elegante »Haus Vaterland«. Obwohl dieses prächtige Gebäude im Herzen ihrer Stadt liegt, kennt Vicky sein Inneres nur von Erzählungen anderer und hat noch nie einen Fuß hineingesetzt. Säle, in denen jede Nacht Orchester zum Tanz spielen, riesige Restaurants und intime Cafés, die Rheinterrassen, in denen stündlich Gewitter grollen mit künstlichem Blitz und Donner – nur Märchenhaftes hat Vicky gehört.
Am Potsdamer Platz ragt das hohe Rund des »Haus Vaterland« schwarz in den Abendhimmel. Wie eine Krone strahlt die angeleuchtete Kuppel, in warmem Gelb leuchten die Fensterreihen, hinter denen, anders kann sie es sich gar nicht denken, lauter glückliche, reiche Menschen sitzen. In den Kammerspielen des Hauses läuft der Film ›Ein Lied für Dich‹. Wer wartet auf sie? Nervös streicht sich Vicky durch die Haare und fasst nach ihren Ohren. Als sie vorhin in dem Pfauenblauen vor dem Spiegel stand, konnte sie nicht widerstehen, die Ohrringe mit den Smaragden anzuziehen, den einzigen Schmuck, den Harry ihr geschenkt hat. Kurz nach jener Nacht in der Poststelle … Sie kommt sich wie eine Verräterin vor, als sie das »Vaterland« betritt. Jeder muss ja sehen, dass sie auf dem Weg zum Rendezvousmit einem Unbekannten gestohlene Kleider trägt und den Schmuck eines anderen.
Auf dem Heimweg ist für Vicky der Abend zu wenigen Minuten zusammengeschmolzen. Während sie von der Rückbank des Taxis die nächtlichen Straßen Berlins vorübergleiten sieht, verschwimmen die Lichtreklamen und Autoscheinwerfer vor ihren Augen. Sie versucht, sich an den Anfang zu erinnern, an die Stunden vor der Katastrophe. Ihre Bewunderung für den prächtigen Saal, ihren freudigen Schreck, als sie ihn dort sitzen sah. An die unbekannten köstlichen Speisen, den Champagner, den Klang der Geigen. Wie sie langsam beschwipst wurden und sie mit ihm tanzen wollte. Wie er sie zurück auf den Sessel zog und endlich damit herausrückte. Nicht einmal daran, an den Wortlaut seiner Frage, kann sie sich erinnern! Nur die Sätze, die dann folgten, drehen sich endlos in ihrem Kopf.
»Warum jetzt auf einmal?«, hat sie Harry gefragt. »Um eine arische Ehefrau zu haben?«
»Warum jetzt auf einmal nicht mehr?«, hat er geantwortet. »Um keinen jüdischen Ehemann zu haben?«
Ins Braune hinein
Kühl ist es hier im Jonass. Wunderbar kühl. Draußen legt sich die Hitze aufs Gemüt. Durst ist ewiger Begleiter beim Laufen, Hetzen, Taumeln durch die heiße Stadt. Hier im Kaufhaus kann man sich erholen. Bei Jonass sind alle gleich. Da schauen die Verkäuferinnen nicht darauf, ob jemand rissige Hände vom Waschen und Putzen hat, das Kleid schon drei Mal geflickt ist. Aber so gut, dass man es nur bei näherem Hinsehen merkt. Das Jonass heißt alle willkommen, die noch ein bisschen Geld in der Tasche haben, um sich etwas zu leisten. Selbst die praktischsten Kleidungsstücke sind so hübsch drapiert, dass sie wie Garderobe wirken. Die Verkäuferinnen fragen höflich, wonach man sucht, und weisen den
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