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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Schwester«, sagt er zur Nachbarin. »Aber erst am Abend. Kannst du Martha so lange ein wenig helfen? Sie ist sehr müde.«
    »So eine Geburt ist kein Spaziergang«, sagt die Schulz.
    Wilhelm schaut verlegen zu Charlotte, die auf der Ofenbank sitzt und mit Hölzchen spielt. Schließlich wollte Martha das Zweite. »Die Kleine wird bald drei, das ist ein gutes Alter für ein Geschwisterchen«, hat sie gesagt und die auswaschbaren Präservative zur Seite gepackt. Da war er noch nicht überzeugt. »Es wird schlechtere Zeiten geben«, hat er gemeint. »Die Leute sagen es. Auch die was davon verstehen.« Dabei hat er an seine Kollegen gedacht. Die munkeln und murren, weil sie Angst haben, die Arbeit zu verlieren. Da weiß man nicht, was richtig und was falsch ist.
    Dass nun Bernhard auf der Welt ist, daran möchte er um keinen Preis etwas ändern. Es wird enger werden, denkt er, aber das schaffen wir schon. Bau ich uns noch einen Schrank in die Ecke neben dem Ofen. Bernhards Wiege stellen wir zu unseren Füßen. Hauptsache, die Arbeit bleibt. Doch ob es leicht werden wird für ein Kind in diesen Zeiten, daran hat er noch immer seine Zweifel. Und er denkt an seinen Freund Arno. Arno, der Kommunist. Selbst Martha nennt einen wie ihn unverbesserlich und gefährlich. Aber Arno weiß meist, wovon er redet, geht zu einem Bildungszirkel, wo sie politische Schriften lesen und darüber diskutieren. Wollte ihn mal mitnehmen, da hat er abgewinkt, das sei für einen Zimmermann nicht das Richtige, sich mit solchem Kram zu befassen. Arno hat entgegnet, dass es hier nicht um Theorie gehe, sondern ums Leben. Und das werde für einen wie Wilhelm bald schwierig sein. So ist Arno. Hat immer nur ein halb leeres Glas auf dem Tisch. Doch seit dem Blutmai glaubt Wilhelm es auch. Dass schlechte Zeiten kommen werden. Da ist er mit Arno in den Wedding gefahren, um ihm seineFreundschaft zu beweisen, und hat gesehen, wie sie auf die Arbeiter eindroschen. »Warum demonstrieren sie auch, wenn es verboten ist«, hat Martha gesagt, als er entsetzt nach Hause kam, mit Blut am Jackenärmel, das nicht sein eigenes war.
    Charlotte kommt an den Tisch und reißt ihn aus seinen Gedanken. Wilhelm schaut auf die Küchenuhr. »Ich muss gleich zur Arbeit. Die bauen in der Simplon ein Kinderhaus. Da passt man später auf Kinder auf, deren Mütter tagsüber arbeiten. Wenn’s nicht reicht, was der Mann nach Hause bringt.«
    Die Nachbarin findet das nicht richtig. Es sollte immer für alle reichen, was der Mann von der Arbeit nach Hause bringt. Aber Wilhelm ist froh, dass er schon jetzt die nächste Arbeit hat, wo doch gerade erst eine zu Ende gegangen ist.
    Auf dem Weg zur neuen Baustelle denkt Wilhelm, dass der Bau des Kaufhauses eine tolle Sache war. Etwas ganz Besonderes, wo man stolz sein kann, dabei gewesen zu sein. Dieses Jonass, das ist für Generationen gebaut. Für Jahrhunderte. Er versteht etwas davon, wie ein gutes Haus zu sein hat. Und das Jonass ist ein gutes Haus. Prächtig und modern. Diese neue Art zu bauen, Stahlskelett, das gefällt ihm. Starke Knochen, darauf kommt es an bei einem Haus. Dann kann es in die Höhe wachsen und auch etwas aushalten, wenn es sein muss. Ihm selbst aber hätte es beinahe die Knochen gebrochen beim Bau. Er erinnert sich nur, dass er ein Geräusch gehört hatte, ein Ächzen und Knacken, und noch einmal umgekehrt war, um nachzusehen. Dann lag er unter den Balken. Dazwischen war alles ausgelöscht. Er konnte kaum atmen, so schwer lag es auf seiner Brust. Schwarz wurde ihm vor Augen, pechschwarz, und alles versank um ihn. Als er wieder Luft bekam, hatte er um Hilfe gerufen, leise, dann lauter. Aber es kam niemand. Niemand. Und langsam dämmerte ihm, dass auch kein Kollege mehr kommen würde. Dass sie alle nach Hause gegangen waren. Befreien konnte er sich nicht, und er wusste, vor dem nächsten Morgen würde niemand hier sein.So lag er da und starrte auf das Gekritzel neben sich auf der rohen Wand, das die Kollegen hinterlassen hatten.
    Noch jetzt wacht er manchmal auf in der Nacht, ringt nach Luft, als liege es tonnenschwer auf seiner Brust. Es dauert eine Weile, bis er begreift, dass er nicht eingeklemmt unter Balken liegt, sondern im eigenen Bett. Dann ist er froh, wenn er Martha nicht geweckt hat mit seinem Stöhnen und Ächzen. Nie wird er Marthas Gesicht vergessen, das Entsetzen in ihren Augen, als man ihn nach dem Unfall nach Hause brachte, gestützt auf zwei Kollegen, die ihn am Morgen gefunden hatten. Die Nacht war

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