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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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da. Sie trägt das Rot wieder auf. Wenn er erwähnt, dass er sich für mich eingesetzt hat bei Grünberg, dass ich ihm dankbar zu sein habe und ihm etwas schuldig bin, schwört sie sich, dann war es das erste und letzte Mal.Ausgerechnet heute, am Tag des Boykotts, ist Chaja so krank, dass sie Elsa nicht nehmen kann. Seit Tagen wurde für diesen Samstag, den 1. April, zum Boykott aller jüdischen Geschäfte aufgerufen. Am meisten wurde gegen die Warenhäuser gehetzt, als Inbegriff des Weltjudentums. Die Tietz-Häuser und das KaDeWe haben vorsorglich ihre Pforten verriegelt. Vicky wünschte, auch das Jonass hätte geschlossen, aber Grünberg ist dagegen gewesen. Eilig packt sie ein paar Stifte und einen Apfel in ihre Tasche. »Heute gehst du mit Mama ins Kaufhaus!«
    Elsa klatscht in die Hände. »O ja! Kommt Bernhard auch?« Schon öfter hat sie Mama mit Oma Chaja bei Jonass abgeholt, durfte mit ihr Aufzug fahren und all die aufregenden Sachen anschauen. Ein paarmal hat sie Bernhard dort getroffen und mit ihm gespielt.
    »Nein, Bernhard kommt heute nicht«, sagt Vicky und knöpft Elsas Mantel zu. »Los, wir müssen uns beeilen!«
    Gestern Nacht haben die mit ihrem Aufruf zum Judenboykott die halbe Stadt plakatiert. Seit Langem ist Vicky abends mal wieder mit Harry aus gewesen, da sahen sie die jungen Männer mit ihren Fahrrädern und Eimern. Immer zu zweit oder dritt klatschten sie Kleister auf Litfaßsäulen, überklebten die Plakate mit ihren eigenen, strichen sie mit einem Schrubber glatt, stiegen auf die Räder und fuhren davon. Als das erste Grüppchen fort war, haben Harry und sie sich vor die Litfaßsäule gestellt und gelesen. »Deutsche, verteidigt Euch gegen die jüdische Gräuelpropaganda, kauft nur bei Deutschen!« stand da in großen Buchstaben. Darunter: »Germans defend yourselves against Jewish atrocity propaganda, buy only at German shops!«
    »Was heißt das?«, hat sie von Harry wissen wollen. »Ich versteh nur ›Germanen‹.«
    »Dasselbe auf Englisch.«
    »Aber wieso denn, wenn’s an die Deutschen gerichtet ist? Sonst soll doch jetzt immer alles reindeutsch sein. Keine Negertänzemehr, keine Jazzmusik, man soll auch nicht mehr Girlsreihe und Sexappeal sagen …«
    »Und auch keinen mehr haben«, hat Harry gesagt und ihr einen Klaps auf den Hintern gegeben. »Es ist eben nicht an die Deutschen gerichtet. Die spielen nur für die Nazis die Dolmetscher nach London. Dort hat man sich ein bisschen Sorgen um uns deutsche Juden gemacht, und das, obwohl wir Juden die armen Deutschen fest im Würgegriff halten.«
    »Ach, ihr paar Juden! Das wird schon ein Würgegriff sein.«
    »Jawoll, wir sind eben stark wie hundert! Soll ich’s dir beweisen?« Mit diesen Worten hat er sie hoch in die Luft gehoben, ist schwankend mit ihr in die Knie gegangen und umgekippt. Lachend haben sie vor der Litfaßsäule im Staub gelegen und sich geküsst. Ein älteres Paar kam vorbei. »Pfui Teufel!«, sagten beide wie aus einem Mund.
    Heute Morgen ist Vicky nicht zum Lachen zumute, als sie sich mit Elsa an der Hand auf den Weg zum Jonass macht. Wie immer, wenn Vicky es besonders eilig hat, lässt sich Elsa besonders viel Zeit. Reißt sich von ihrer Hand los, hebt einen Zeitungsfetzen auf, hält ihn dicht vor die Augen und tut, als würde sie lesen. Vicky sieht auf die Uhr. Schon zehn Minuten zu spät! Gerade heute wird Herr Grünberg erwarten, dass alle pünktlich an ihrem Platz sind. Sie nimmt Elsa auf den Arm, eigentlich ist sie schon viel zu schwer, und läuft bis zur Lothringer Straße.
    Noch auf der Kreuzung sieht sie das riesige, quer über den Haupteingang geklebte Plakat. Auf dem Platz vor dem Kaufhaus hält sie im Laufschritt inne. Männer in SA-Uniformen stehen in einer geschlossenen Reihe vor dem Tor. »Deutsche, wehrt euch!« steht auf dem Plakat. »Kauft nicht bei Juden!« Von der Mitte des Plakates grinst ein kugelrunder Mann mit schwarzem Haar, wulstigen Lippen, kleinen Äuglein und Hakennase. »Wertheim – Tietz – Jonass: fett von deutschem Blut.«Passanten stehen in Gruppen auf dem Platz, in einigem Abstand zum Tor. Einige tuscheln, die meisten schauen stumm auf das Haus, das Tor und die Uniformierten. Wird es jemand wagen, sich dem Eingang zu nähern? Da löst sich ein Paar aus der Menge, ein Mann mit Schiebermütze und Knickerbockern, eine Frau mit einem großen Einkaufsnetz. Sie machen ein paar Schritte Richtung Eingang. »Achtung, Itzig!«, schreit einer der Uniformierten. »Auf nach

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