Torstraße 1
nicht hingehen. Das Geräusch hört auf, und es raschelt in der Kabine. Endlich geht der Vorhang auf, Mama kommt heraus und zieht ihn schnell hinter sich zu. Ihre Haare sehen gar nicht mehr schön aus, sie hat rote Flecken im Gesicht und am Hals.
»Alles in Ordnung, Schatz«, sagt Mama. »Ich hatte nur Bauchweh.« Dann breitet Mama die Arme aus, aber Elsa will jetzt nicht in die Arme. Warum hat man Flecken am Hals, wenn der Bauch wehtut? Und warum knöpft man die Bluse oben auf? Das Schild, auf dem Jonass steht, hängt ganz schief. Plötzlich steigt Wut in ihr auf. Sie rast auf die Kabine zu, will hineinsehen. Kurz vor dem Vorhang schnappt Mama sie, hebt sie hoch und hält sie so fest, dass es wehtut.
»Du lügst!«, schreit Elsa und reißt an Mamas Haaren. »Du lügst, du lügst!« Sie strampelt mit den Beinen und tritt nach ihr. Doch sie kann sich nicht aus Mamas Griff befreien. Irgendwann hört sie auf zu treten, legt das Gesicht auf Mamas Schulter und weint.
»Ist ja gut, Süße, ist ja gut.« Mama streicht ihr übers Haar. »Jetzt bekommt ihr etwas zum Spielen, Bernhard und du.«
Da erst sieht Elsa Bernhard ein paar Meter vor der Kabine stehen. Er hat die Fäuste in den Taschen vergraben und sagt: »Ich will zu meiner Mutter.«
In den letzten Wochen macht Vicky auf dem Weg zur Arbeit einen Bogen um den Nikolaifriedhof. Seit der Wessel da begraben liegt, hat es immer wieder SA-Aufmärsche und Gedenkfeiern am Grab gegeben. Seit Anfang des Jahres geben sichdie Truppen dort die Fahne in die Hand. Im Januar hatte sie, als sie wie so oft an der Friedhofsmauer vorbeiging, plötzlich Hitlers schneidende Stimme im Ohr, die sie bis dahin nur aus dem Rundfunk kannte. Das war noch vor seiner Ernennung zum Reichskanzler. Man musste noch nicht stehen bleiben und den rechten Arm hochreißen. Jetzt hört Vicky es wieder bis zur anderen Straßenseite über die Mauer schallen: »Die Straße frei den braunen Bataillonen! Die Straße frei dem Sturmabteilungsmann! Es schaun aufs Hakenkreuz voll Hoffnung schon Millionen …«
Die Frau, die gerade an der Mauer vorbeiläuft, ist zusammengefahren, als das Lied einsetzte. Nun eilt sie in gebückter Haltung, als könne sie sich unsichtbar machen, bis zur Kreuzung. Etwas an ihr kommt Vicky bekannt vor. Sie trägt einen schäbigen dunklen Wintermantel, obwohl die Märzsonne schon warm ist. Um ihre Schultern flattert ein buntes Tuch, das grell an ihr wirkt. Natürlich – das ist ja das Tuch, das sie selbst für Wilhelm ausgesucht hat, als Geschenk für Martha, kurz nach Elsas und Bernhards Geburt.
»Martha!«, ruft Vicky über die Straße. Die Frau fährt wieder zusammen, zögert und bleibt stehen. Fast tut es Vicky leid, dass sie gerufen hat, so verängstigt sieht Martha aus, als sie ihr gegenübersteht. Sie müsse ins Kreditkaufhaus, sagt Martha, sie könne die fällige Rate nicht zahlen, brauche alles für Medizin.
»Oje, Martha, das tut mir leid. Bist du krank?«
»Ach nein«, sagt Martha mit wegwerfender Handbewegung. »Nicht ich. Arno. Unser kleiner Arno.« Und dann flüstert sie, sodass Vicky es kaum hören kann: »Er ist fast gestorben.«
Später in der Mittagspause geht Vicky die Begegnung mit Martha Glaser nicht aus dem Kopf. Sie hat Martha zur Kasse begleitet und dafür gesorgt, dass die fällige Ratenzahlung ausgesetzt wird, sie genötigt, sich auf einen Kaffee und ein Stück Torte einladen zu lassen. Sie hat Martha nicht ziehen lassen,ohne ihr ein Spielzeugauto für Bernhards kleinen Bruder aufzudrängen und ihr das Versprechen abzunehmen, ihr nächstes Mal Bescheid zu geben, wenn wieder so etwas Schlimmes wie das mit Arnos Hirnhautentzündung passieren sollte. Sie als Mutter könne das doch nachfühlen, hat sie gesagt, auch um ihre Elsa habe sie wochenlang gebangt. Da hat Martha sie angesehen, als begreife sie erst jetzt, mit wem sie am Tisch saß und Kuchen aß in winzigen Bissen. Dann hat sie sich zu Vicky über den Tisch gebeugt und geflüstert: »Und der große Arno ist verschwunden.«
Natürlich, Arno, der Freund der Familie Glaser, hat Vicky gedacht, Arno, der Kommunist. »Vielleicht ist das besser, wenn er fort ist«, hat sie zu trösten versucht. »Nach allem, was man so hört. Was die mit denen machen, die noch da sind.« Aber Vicky weiß ebenso gut wie Martha, dass »verschwunden« alles Mögliche bedeuten kann. Und dass eine Hirnhautentzündung des schwachen kleinen Arno sich nicht auswachsen wird wie Elsas Schwäche nach der zu frühen Geburt. Und weil
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