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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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kürzesten Weg. Aber den will man ja gar nicht gehen.
    Martha möchte eine große Runde drehen, die duftigen Sommerkleider befühlen und die neuesten Hüte bewundern. Nie wird sie selbst solch ein Prachtstück tragen. Das ist was für die Fräuleins. Aber vielleicht einmal anprobieren, soll sie? Darf man? Man darf, und sie setzt einen auf, einen breitkrempigen Hut mit blauer Feder. Die Verkäuferin beglückwünscht die Dame zu ihrem guten Blick. Dame, wie sie das sagt. Man ist doch nur eine Arbeiterfrau. Obwohl, mit diesem Hut … Sie erkennt sich ja selbst kaum wieder. Aber wo sollte sie den wohl tragen? Nein, nur ab und zu daran denken, dass diese Hüte hier liegen und warten. Dass es nicht ganz und gar unmöglich wäre, einen von ihnen zu besitzen.
    Zum Abschied läuft sie noch eine Runde durch die Etage. Bleibt hin und wieder stehen, um anderen Damen dabei zuzusehen, wie sie sich vor den Spiegeln drehen und wenden. Das ist fast wie Sonntag. Und vielleicht kommt sie bald wieder her. Nur um zu schauen. Im Kaufhaus Jonass kann man das machen. Hier sind alle willkommen.

    Wilhelm Glaser staunt sich an seinem Jungen entlang. Er fängt bei den Zehen an und arbeitet sich hoch bis zum kahlen Köpfchen, in dessen Mitte es pulsiert. So lebendig sieht das aus. So gefährlich. »Bernhard«, flüstert er und legt seinen Zeigefinger auf die Nase des Jungen, die ihm ein wenig schief und plattgedrückt vorkommt.
    »Guck dir die Hände an«, seufzt Martha. Im Bett von dicken Kissen gestützt, hält sie den Neugeborenen im Arm. Wie müde sie aussieht, denkt Wilhelm und streicht ihr über die Wange. Ihr Haar, das sie sonst tagsüber zum Knoten bindet, fällt ihr offen und verschwitzt über die Schultern. Wie immer ist er erstaunt, wie lang Marthas Haar ist. Hin und wieder schiebt er nachts eine Hand unter das lange, dichte Haar auf ihrem Kissen, und das ist ein tröstliches Gefühl. So einen Blödsinn würde er Martha aber nie erzählen. Er nimmt Bernhards kleine Faust in seine, und die verschwindet darin, als gäbe es sie nicht.
    »Richtige Zimmermannshände«, sagt Martha und lächelt. »Findest du nicht?«
    Findet er nicht, aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, dass er, Wilhelm Glaser, heute zwei Mal Zeuge eines Anfangs geworden ist. Erst die Kleine in der Poststelle und nun sein eigener Sohn. Der es nicht abwarten konnte, bis sein Vater am Abend nach Hause kommt. Oder war es nicht eher so, dass diese Kleine ihn aufgehalten hat und schuld daran war, dass er zuBernhards Geburt zu spät gekommen ist? Sein Platz in diesen Stunden wäre hier gewesen, bei seiner Frau. Andererseits, sagt er sich, ist Martha auch ohne ihn klargekommen, mit Hilfe derselben Hebamme, die schon Charlotte auf die Welt geholt hat. Er kann ihnen nicht böse sein, der Kleinen und ihrer Mutter. Der jungen Frau, die so außer sich war auf dem Packtisch, dass sie nichts zu sehen und zu hören schien. Dennoch haben seine Hände auf ihren Schultern ihr Ruhe und Halt gegeben, das hat er gespürt. Wie es ihr und dem Kind jetzt wohl gehen mag? Elsa, hat die Frau gesagt, sie soll Elsa heißen.
    »Bernhard und Elsa«, flüstert Wilhelm. »Hoffentlich werden das gute Zeiten für euch beide.«
    Martha schaut zu ihm auf. »Was hast du gesagt?«
    Wilhelm zuckt zusammen. »Nichts«, sagt er und drückt Marthas Hand. »Gar nichts.«
    Am nächsten Morgen schaut Wilhelm nach Charlotte, die bei der Nachbarin eine Treppe tiefer geschlafen hat. Die Schulz stellt ihm eine Tasse Kaffee auf den Tisch.
    »Richtiger Kaffee«, sagt sie stolz, »Konsum-Mischung.« Zwei vierzig koste das Pfund, eine Menge Geld, aber bei so einem Prachtkerl, wie er da geboren ist! Da dürfe man nicht knauserig sein. »Und nu haste endlich deinen Sohn, mit dem du uns in den Ohren lagst. Die arme Martha war schon ganz verrückt davon. Wenn’s aber wieder ein Mädchen wird, hat se gesagt. Geweint hat se, hier an meiner Schulter.«
    Wilhelm tätschelt der Frau die Schulter, als müsse er sie trösten. Davon hat er nichts gewusst, dass er Martha unglücklich gemacht hat mit seinem Gerede vom erwarteten Sohn. Das hat er nicht gewollt. Er wusste ja, dass es ein Junge wird, und dachte, Martha wüsste es auch. Und nach dem Unfall, da ist er todsicher gewesen. Da musste er Martha nur noch davon überzeugen, dass der Junge Bernhard heißen sollte. Bernhard, kein anderer Name und auch kein weiterer, einfach nur Bernhard.
    Wilhelm gießt sich einen Schluck Magermilch in den Kaffee. »Nachher kommt meine

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