Torstraße 1
sie das weiß, schämt sie sich. Nächstes Mal, denkt Vicky, als sie am Ende der Pause in die Damenmode zurückgeht, werde ich für Martha etwas aussuchen, das besser zu ihr passt. Schön soll es sein, schön und sanft wie Marthas Stimme.
Nach der Arbeit kommt Elsie zu Vicky nach Hause. Elsa schläft in der Stube, die beiden machen es sich in der kleinen Küche gemütlich. Vicky stellt eine Kanne Tee auf den Tisch. »Zu schade, dass wir nicht ein paar Platten auflegen können. Da hat so eine feine Dame wie ich schon mal ein Grammofon, und dann steht’s neben dem Bett mit der schlafenden Prinzessin.«
»Tu mir mal vom Schnaps in den Tee, dann sing ich dir was«, sagt Elsie. Vicky schüttet beiden einen ordentlichen Schuss in die Tassen. Doch statt zu singen, meint Elsie: »Der Helbig hat sich heute als echter Ritter erwiesen.«
»Wie, macht er dir jetzt auch den Hof? Ich tret ihn dir gerne ab.«
»Nein danke. Außerdem, da könnte man splitternackt Tango tanzen, der würd den Kopf nicht heben, solange es nicht die Vicky ist. Keine Ahnung, was der an dir findet. Du siehst ja nicht mal anständig arisch aus. Ach, warte.« Elsie springt auf und holt eine Tüte aus ihrer Tasche. »Hätt ich fast vergessen. Futter aus der Heimat.« Vicky bekommt die selbst gebackenen pommerschen Kekse nur Elsie zuliebe hinunter. Futter aus der Heimat? Ihre eigene Heimat ist seit Jahren Sperrgebiet. Eine Fotografie hat sie ihrer Mutter geschickt nach Elsas erstem Geburtstag. So süß sah die darauf aus, das müsste Steine erweichen, hat Vicky gedacht. Das Foto samt Brief kam zurück. »Bitte uns nicht mehr zu behelligen.«
Elsie stößt sie an. »Mensch, Vicky, woran denkst du? Also, Matilde, die neue Sekretärin, hat es mir erzählt. Grünbergs und Helbig und die Kurz wissen nicht, dass Matilde eine Schulfreundin von mir ist, die mir alles brühwarm weitertratscht. Der alte Grünberg hat Harry und Helbig und die Kurz zu einem Gespräch zusammengetrommelt, und Matilde hat stenografiert. Sie ist jetzt meine Spionin. Und ich mach die Mata Hari für dich, wenn du mir weiter nachschenkst. Danke.« Elsie leert ihren Schnaps mit Tee. Dann gibt sie das Gespräch mit verstellten Stimmen wieder. »Es sind ernste Zeiten für unser Unternehmen.« Sie zwirbelt als Heinrich Grünberg den Schnurrbart und räuspert sich. »Gerd Helbig führt auf Verlangen der Bank nun gleichberechtigt mit mir die Geschäfte. Die Bank hat wieder Kredit gewährt, der Konkurs ist abgewendet. Doch die Zinsen sind so hoch, dass wir ohne Einsparungen bald ruiniert sind. Wir müssen Mitarbeiter entlassen. Es tut mir um jeden leid in diesen Zeiten, aber es ist nicht zu ändern.« Elsie wechselt in eine schrillere Stimmlage. »Wenn ich als Personalleiterin einen Vorschlag machen darf: Ich würde bei Fräulein Springerbeginnen. Eine Verkäuferin mit unehelichem Kind ist für die Belegschaft ein schlechtes Beispiel. Dazu ein Kind unbekannter Herkunft. Sie wird schon wissen, warum sie den Vater verschweigt.«
Vicky muss trotz des Schrecks laut lachen, so lebensecht hat Elsie Frau Kurz imitiert. Wie sie bei jedem Wort die Hände ringt. Waschzwang oder Betzwang, haben Elsie und sie oft gerätselt. Elsie fährt fort: »Der alte Grünberg hat gezögert, da ist Helbig für dich in die Bresche gesprungen. ›Gerade weil sie alleine ein Kind ernähren muss, dürfen wir Fräulein Springer nicht entlassen.‹ Sie blickt starr durch eine imaginäre Brille. ›Außerdem ist sie eine unserer besten Verkäuferinnen. In der Damenkonfektion ist sie unersetzlich.‹ Über den grünen Klee hat er dich gelobt. Der Alte stimmte schließlich zu, damit war die Sache vom Tisch.« Elsie überlegt. »Vielleicht muss ich ja jetzt dran glauben, und Matilde hat’s mir bloß nicht gesagt.«
»Und Harry?«
»Dein lieber Harry hat zu allem geschwiegen.« Die Küchenuhr tickt, aus der Stube nebenan hört man leises Seufzen, Elsa wälzt sich im Schlaf. »Aber Vicky! Oh Gott, du weinst ja. Und ich dumme Pute dachte, du wärst darüber … Ach, was weiß ich, was ich dachte. Komm, nimm meine Kekse, nimm den blöden Schnaps. Hau mir eine runter. Hör doch bloß auf zu weinen …«
Eine Woche später malt Vicky sich vor dem Spiegel die Lippen rot. Dann wischt sie das Rot wieder ab. Heute Abend geht sie mit Gerd Helbig in den Kaiserhof. Wieder einmal, in hoffnungslosem Ton, hat Helbig sie vor ein paar Tagen gefragt, ob er sie zum Essen einladen dürfe. Als sie ja gesagt hat, stand er sekundenlang sprachlos
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