Torstraße 1
ihm endlos erschienen. Der unter den Balken eingeklemmte Arm war taub, und mit dem freien allein konnte er nichts ausrichten. Blut sickerte aus einer Wunde am Kopf und lief ihm in die Augen. In den finstersten Stunden hatte er tatsächlich geglaubt, den anbrechenden Morgen nicht zu erleben. Er hatte aufgehört, zu rufen und zu klopfen, aufgehört, sich gegen die schweren Balken zu stemmen. Die Augen geschlossen und versucht, seinen Frieden zu machen. Doch alles in ihm hat sich aufgebäumt bei dem Gedanken, sein Kind, das so bald zur Welt kommen sollte, niemals mit eigenen Augen zu sehen. Seinen Sohn. Er wusste, dass es ein Sohn werden würde. Und in dieser Nacht wusste er auch, wie dieser Sohn heißen sollte. Wie ein Wunder war es ihm erschienen, als es langsam hell zu werden begann. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Wand fielen, neben der er begraben lag, und über die Kritzeleien seiner Kollegen tanzten. Und gerade in dem Augenblick, als ein Lichtfleck über die krummen Buchstaben wanderte, die er mit dem einen freien Arm den Worten der anderen hinzugefügt hatte, hörte er Schritte und Stimmen. Ja, ein Wunder war der Sonnenaufgang nach dieser Nacht. Und manchmal glaubt er, dass er dieses Wunder Bernhard verdankt.
Bernhard ist ein ruhiges Kind, und dafür ist Martha dankbar. Sie ist schon am Morgen erschöpft, obwohl alles so einfachgewesen ist, die ganze Schwangerschaft und auch die Geburt. Wilhelm hatte die Zeit über Arbeit, und sogar ein bisschen Geld konnte sie zurücklegen für schlechtere Tage. Obwohl das ja nun immer mit Angst verbunden ist, Geld in der Zuckerdose zu haben. Was, wenn es morgen nichts mehr wert ist? Dann hätte man gut daran getan, ein bisschen Weißwäsche zu kaufen oder einen warmen Mantel. Und doch ist Martha stolz auf die Scheine in der Zuckerdose. Sie zeugen von guten Zeiten. So war es zumindest vor der Geburt. Seitdem aber ist sie, obwohl sie ihren Jungen doch liebt, voller Angst und immerzu traurig.
Es dauert Monate, bis alles wieder ins Lot kommt. Da kann der Kleine schon sitzen und löffelt seinen Brei in einem Tempo, als gehe es dabei um alles. Diesmal konnte sie nicht so lange stillen wie bei Charlotte, nach zwei Monaten war die Milch weg. Die Nachbarin hat es auf die Schwermut geschoben. »Denk nicht so viel nach, Martha, du hast es doch gut. Der Wilhelm kommt nach der Arbeit nach Hause, geht nur einmal die Woche auf ein Bier. Du hast es hier nicht schwerer als andere.« Martha weiß das und sagt es sich selbst jeden Tag. »Du hast es nicht schwerer als andere«, flüstert sie, bevor sie die Augen öffnet, um sich Mut zu machen für einen neuen Tag. Und noch einmal, bevor sie die Augen schließt vor den Schrecken der Nacht. Die sie dann doch heimsuchen in ihrem Bett, an Wilhelms Seite, der neben ihr schläft und atmet, unerreichbar entfernt.
Jetzt aber kommt bald der Frühling, und sie ist sicher, dass mit ihm alles besser wird. Sie wird einfach nicht mehr hinhören, wenn andere von finsteren Zeiten reden. Wie der Arno. Kaum sitzt der am Küchentisch, redet er über Politik. Vergisst darüber, die Suppe zu löffeln, solange sie heiß ist. Und sie sitzt stumm dabei und weiß nichts zu sagen. Als dieser Horst Wessel umgebracht worden ist, hat Arno behauptet, dass sie es jetzt noch mehr an den Kommunisten auslassen werden. Aber die vom Rotfrontkämpferbund sind auch nicht ohne. Das weiß sie.
Martha schaut auf die Küchenuhr, ein altes Stück von ihren Eltern, das der Vater gebaut hat. Ein Uhrmacher war er, ein kluger Mann. Der Vater ist schon lange tot, gleich zu Beginn des Großen Krieges gefallen, doch seine Uhr tickt und tickt bis heute. Nach dem Vater waren die Brüder gestorben fürs Vaterland, drei an der Zahl, halbe Schuljungen noch. Und darüber am Ende des Krieges die Mutter. Nur sie, das einzige Mädchen, die Jüngste, ist übrig geblieben. Und so besteht Charlottes und Bernhards ganze Verwandtschaft aus Wilhelms kleiner Sippe. Seiner Schwester Marie, die in den ersten Tagen nach Bernhards Geburt für sie da war und immer da ist, wenn man sie braucht. Seinem Bruder Erich, vor dem sie sich fürchtet. Wie Arno redet auch Erich, kaum sitzt er am Tisch, über Politik. Und nach dem dritten Bier faselt er sich die Deutschen zurecht, bis sie die Größten und Stärksten sind. Dann kriegt Wilhelm den Blick, stiert seinen jüngeren Bruder an, bis der den Mund hält. Beim letzten Besuch war es fast so weit. Erich hat über die Juden geredet, die er alle auf eine Insel
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