Torstraße 1
schaffen wolle. Ginge es nach ihm, wären Wertheim und Kaufhaus Israel längst enteignet und judenfrei. Als Erich beim Wort judenfrei angelangt war, ist Wilhelm aufgesprungen und hat den Bruder am Kragen gepackt. »Wenn du das in meiner Wohnung noch einmal in den Mund nimmst«, hat er gesagt, ganz leise und langsam, Wort für Wort und Silbe für Silbe, ohne den Satz zu vollenden.
Als sie nachts schlaflos nebeneinander im Bett lagen, hat Wilhelm ihre Hand genommen. »Wir kommen auch ohne Verwandtschaft aus. Wenn Erich ins braune Hemd steigt, ist er die längste Zeit mein Bruder gewesen.« Martha hat seine Hand gedrückt. »Was bist du denn so für die Juden«, hat sie geflüstert und ein bisschen Angst gehabt, dass Wilhelm wieder die Wut packt. Aber der hat ganz ruhig geantwortet. »Ach, die Juden, Martha, dem Erich geht es doch nicht nur um die Juden. Der will alle auf eine Insel schaffen, die ihm nicht ins reindeutscheBild passen. Die Kommunisten genauso wie die Juden und Sozis. Seinen eigenen Bruder, wenn die Zeit reif ist.« Martha hat nichts gesagt dazu. Den Juden gehörte hier in der Stadt wirklich fast jeder feine Laden. Wenn man nicht viel hat, kann man da schon böse werden, hat sie gedacht und das Licht gelöscht.
Sie schaut wieder auf die Küchenuhr und stellt fest, dass eine halbe Stunde vergangen ist. Nur mit Grübeleien verbracht. Sie muss mit den Kindern zum Einkaufen, also wird Bernhard warm eingepackt, trotz Frühling ist es draußen noch heftig kalt. Martha setzt sich den Jungen auf die Hüfte und klemmt sich unter den anderen Arm die kleine Kinderkarre, die Wilhelm für seinen Sohn gebaut hat. »Eine echte Zimmermannsarbeit«, hat er gesagt und einen Tag lang gehämmert und gesägt. »Fast so gut wie ein Haus.« Die vier Räder hat er von Charlottes kaputtem Kinderwagen abgebaut. Die Karre ist leichter die Treppen herunterzutragen, und billiger war es auch. Charlotte trottet die vier Treppen hinter Martha her und hopst in kleinen Sprüngen über den schmalen Hof. Martha bleibt einen Augenblick stehen und wendet ihr Gesicht der Sonne zu. Wenn Wilhelm immer Arbeit hat, können sie irgendwann ins Vorderhaus ziehen. Ein bisschen mehr Licht in der Wohnung, Sonne am Tag und elektrisches am Abend. Die Vorderhäuser mit ihren erleuchteten Fenstern strahlen abends wie Paläste im Dunkeln. Manchmal glaubt sie, dass mit etwas mehr Licht das ganze Leben leichter wäre. Aber Licht ist teuer.
Doch draußen scheint jetzt die Sonne für alle und nimmt der Kälte den Schrecken. Martha fasst einen übermütigen Plan. »Wollen wir zum Jonass laufen«, fragt sie Charlotte. »Und uns ein Bett für dich anschauen?« Charlotte nickt begeistert. Bernhard sitzt in seiner Holzkarre wie ein kleiner König. Wenn die Leute ihn so sehen, den pausbäckigen Jungen, der ununterbrochen winkt, als meine er jede und jeden, lächeln sie fröhlich und winken zurück. Straßenbahnen und Omnibusse fahren, überallsind Baugruben. Martha müht sich mit Bernhards Karre, deren Räder auf dem sandigen Boden schwer laufen. In der Frankfurter Allee wird gebuddelt für die neue U-Bahn-Linie E. Wenn der Wilhelm hier Arbeit hätte, wäre er abends schnell zu Hause. Aber gefährlich ist es auch da unter der Erde. Dann lieber ein Kinderhaus.
Vielleicht trifft man im Jonass diese Vicky, denkt Martha. Sie hat sie bisher erst einmal dort gesehen und sich bedankt für das schöne Tuch, das die Verkäuferin für sie ausgesucht hatte. Weiß der Himmel, wie Wilhelm auf die Idee gekommen ist, ihr so etwas zu schenken. Die sieht ziemlich toll aus, hat Martha gedacht, als sie Vicky gegenüberstand, und ihre rissigen Hände in den Manteltaschen vergraben. Dazu noch dieser Geruch. All diese Verkäuferinnen duften, als lägen sie dauernd in Rosenwasser. Vicky hat die verlegene Pause überbrückt, indem sie über Elsa redete und wie fabelhaft sich das Mädchen nun mache, nachdem es am Anfang so krank und schwach war. Selbst die Ärzte hätten mit dem Kopf geschüttelt und keine Hoffnung gehabt. Für einen Moment stand ihr noch die Angst im Gesicht. Da hat Martha sie dann doch gemocht. Für die Angst um das Kind und dafür, dass so eine Verkäuferin ja immer aufpassen muss, dass kein Kunde etwas mitbekommt von dem unehelichen Kind. Am Ende musste sie Vicky versprechen, beim nächsten Mal Bernhard mitzubringen. »Die sind doch so gut wie Geschwister«, hat Vicky gesagt und gelacht. »Es wird Zeit, dass sich die beiden kennen lernen!« Sie weiß selbst nicht
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