Torstraße 1
vorfühlen. »Das kannst du Vater nicht antun«, sagt sie nur. Hätte er sich ja denken können nach den Elastolinfiguren. Aber immer wird der Vater auch nicht alles zu entscheiden haben.
Mit dem olympischen Ausstellungszug fängt auch die Schule für Bernhard an, und er kann nicht sagen, dass die ersten Tage besonders schön sind. Auch wenn erzählt wird, dass bald Jungen und Mädchen, die besonders sportlich sind, für die Eröffnung der Olympischen Spiele auf dem Reichssportfeld ausgesucht werden. Sie sollen beim Fahnenaufmarsch dabei sein. Bernhard und Kalle wollen zwei von den zweitausend Jungen werden, die auserwählt sein sollen. Der dritte im Bunde ist Robert, der in der Volksschule neben ihm sitzt. Robert Weinberg wohnt inder Krautstraße, also eigentlich um die Ecke, aber noch nie sind sie sich begegnet. Nach wenigen Wochen gesteht Robert, dass er Raketenbauer werden will. Dafür bekommt er Bernhards volle Bewunderung, der nun doch nicht Zimmermann werden, sondern mit Robert zusammen Raketen erfinden will.
Es gebe nur ein Problem, sagt Robert eines Tages nach der Schule, als sie sich zu dritt vor dem Schulhaus herumdrücken, um zuzusehen, wie die Mädchen von der Nachbarschule vorbeilaufen. Immer in kleinen Grüppchen und alle gleichzeitig redend. Bernhard hat schon vor Tagen eine entdeckt, die sieht fast so schön aus wie Elsa. Und nun wüsste er nur zu gern, ob sie auch so gut riecht, nach Sonne und Seife wie Elsa, aber er kann ja nicht einfach ein Mädchen vor der Schule ansprechen. Oder beschnuppern. Für so etwas wird man gehänselt, bis es richtig wehtut.
»Ich bin Halbjude«, sagt Robert, »da werden sie mich wohl keine Raketen erfinden lassen.«
Kalle weiß sofort, wovon hier die Rede ist. »Du bist ein Saujud«, entfährt es ihm, und gleichzeitig legt er Robert eine Hand auf die Schulter. Der Saujud und dazu die Hand auf Roberts Schulter, da weiß Bernhard nicht weiter.
»Wieso darf ein Halbjude keine Raketen bauen?«, fragt er, und Kalle sieht ihn an, als hätte er den Verstand verloren.
»Weil die Juden unser Unglück sind«, erklärt er und lässt die Hand auf Roberts Schulter.
Robert geht einen Schritt zurück und Kalles Hand fällt von ihm ab, sodass sie ratlos im Kreis stehen und nicht wissen, wie sie da wieder herauskommen.
Charlotte hat gesagt: »Wenn du erst lesen kannst, wird es schön.« Aber da ist sich Bernhard nicht sicher. Gerade die Lehrerin, die ihm das Lesen beibringen soll, ist eine schlimme Zicke. Manchmal holt sie Robert nach vorn und dreht seinen Kopf hinund her, als sei der nicht angewachsen. »Seht ihr«, sagt sie zu den anderen Schülern. »Das hier ist keine deutsche Rasse, nicht nordisch, nicht ostisch, nicht fälisch, nicht westisch. Das ist jüdisch.« Dann schickt sie Robert an den Platz zurück, und der sitzt stumm und starr wie ein Berg Unglück, sodass Bernhard ihn nicht trösten kann. Einmal flüstert Robert: »Wir gehen sowieso nach Amerika, da kann die Zicke mich mal.« Aber das glaubt er seinem Freund nicht. Wie soll der mit seiner Familie nach Amerika kommen. Die haben ja auch nicht mehr Geld als andere hier im Viertel.
Eines Tages, als Bernhard von der Schule kommt, liegt auf dem Küchentisch ein Brief. Ein hellblaues Kuvert mit Briefmarke und Stempel und großen, runden Buchstaben statt der Schreibmaschinenschrift, die er von den wenigen Briefen kennt, die sonst bei ihnen eintreffen. B-e-r… beginnt er laut zu buchstabieren, und plötzlich begreift er: Der Brief ist für ihn! Für ihn, Bernhard Glaser, für ihn ganz allein. Sein Herz pocht bis in die Ohren, als er den Umschlag umdreht. E-l-s-a liest er und will den Brief gleich aufreißen. Dann geht er zur Schublade, holt ein Messer heraus und schlitzt den Umschlag vorsichtig auf. Mühsam versucht er, die einzelnen Buchstaben und Wörter zu entziffern. Elsa schreibt, sie hat jetzt ein eigenes Zimmer und ganz viele Stifte zum Malen. Und früher war es viel lustiger, als sie Mama für sich alleine hatte und mit ihm spielen konnte im Jonass und auf der Straße. Auf die Rückseite hat sie ein Bild gemalt. Ein Mädchen mit braunen Zöpfen und einen Mann mit blauen Haaren und einer Trommel. So einen hat Bernhard noch nie gesehen hier in der Gegend. Und dass solche Männer in dem feinen Viertel herumlaufen, wo Elsa jetzt wohnt, kann er sich auch nicht denken. Unten auf dem Bild steht Elsa Springer, obwohl sie doch nun Helbig heißt, wie er vom Vater weiß. Bernhard läuft durch die Wohnung, sucht ein Blatt
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