Torstraße 1
wäre der Vater fast ums Leben gekommen. So viel weiß Bernhard, und mehr weiß er nicht. Doch auch heute redet Wilhelm oft davon, wie gefährlich es sein kann auf den Baustellen, die in diesen Monaten wie Pilze aus dem Boden schießen. Kaum dass man noch hinterherkommt, wo der Führer es so eilig hat. Im Unterricht wird dauernd von der Welthauptstadt Germania gesprochen. Wenn es mit Amerika nicht klappt, hat Bernhard sich schon überlegt, dann wird er später da mitmachen. Das könnte gerade so hinhauen, denn in der Schule haben sie gesagt, dass der Führer die Welthauptstadt in zwanzig Jahren fertig haben will.
An all das denkt Bernhard, während er auf den gekrümmten Rücken der Mutter schaut. Noch hat sie sich nicht umgedreht. Noch hat sie nichts gesagt, und noch muss er nichts hören. Doch dann kommt die Schulzen zur Tür herein, und da weiß er es. Dass der Arno nun tot ist. Robert nimmt Bernhards Hand und fängt an, etwas vor sich hin zu murmeln, was keiner verstehen kann. »Für Arno«, sagt er, als er geendet hat. »Ein Gebet für Arno.«
Bernhard denkt an seinen kleinen kranken Bruder, der die Mutter und das Leben traurig gemacht hat. Er denkt, dass nun mehr Platz in der Wohnung sein wird, und entgeistert sich über diesen Gedanken.Wochen später, da ist es längst warm in der Stadt und man kann schon in kurzen Hosen laufen, nimmt Wilhelm Bernhard an einem Sonntag auf seine Knie, was er schon lange nicht mehr gemacht hat. Und Bernhard ist es auch ein wenig komisch, so groß, wie er inzwischen ist, auf den Knien seines Vaters zu sitzen. Aber der hat gar nichts Ernstes im Sinn, sondern schlägt einen Ausflug vor. Seltsamerweise will er auf einen Friedhof, aber nicht dahin, wo Arno begraben ist. Ihm ist es egal, Ausflug ist Ausflug, und der Vater war jetzt all die Wochen schweigsam und traurig. Kaum dass er mal beim Abendbrot eine Frage gestellt hat oder einen Satz gesprochen. Und wenn er einmal versucht hat, fröhlich zu klingen, hatte Bernhard erst recht das Gefühl, er müsse den Vater trösten. Noch schlimmer die Mutter, die nun manchmal morgens gar nicht mehr aus dem Bett aufsteht. Charlotte und er schmieren weiter ihre Frühstücksbrote, kaufen ein und machen den Abwasch. Am letzten Sonntag hat er gesehen, wie der Vater sich selbst seine Zimmermannsjacke geflickt hat.
Heute ziehen sie los, sein Vater und er, laufen am Viehhof vorbei, wo es grässlich riecht. So viele Tiere, die jeden Tag ankommen und verschwinden, und man will vielleicht nicht genau wissen, wie es geht. Manchmal laufen Männer übers Gelände, die Kittel fleckig von Blut. Danach kommen sie am »Flora« vorbei und schauen, welcher Film dort gespielt wird. »Lumpacivagabundus«, liest Bernhard und fragt den Vater, was dieses Wort bedeutet.
»Irgendein Tunichtgut«, sagt der, »einer, der das Leben leichtnimmt.«
Das kann dann ja niemand aus ihrem Bekanntenkreis sein, denkt Bernhard.
Sie laufen die lange Strecke bis zur Lothringer Straße. Noch immer sieht das Kaufhaus Jonass prächtig aus, aber gleichzeitig auch traurig, so verlassen und leer, wie es da steht. Bernhardfühlt eine kleine Sehnsucht nach Elsa, die er nur noch selten sieht und die immer verspricht, ihn einzuladen in ihr neues Zuhause, das sie Villa nennt. Aber noch ist es nicht dazu gekommen.
Auf dem Friedhof in Pankow hat Wilhelm wohl ein Ziel, denn er schaut sich gar nicht groß um, sondern läuft geradewegs bis zu einem Grab, auf dem ein schwierig zu lesender Name steht. Carl von Ossietzky, entziffert Bernhard mit Mühe, wer das wohl gewesen sein mag? Vielleicht ein Verwandter von ihnen, von dem er noch nie gehört hat? Als er den Vater danach fragt, schlägt der vor, er möge doch einfach ein bisschen herumlaufen, aber aufpassen, dass er zurückfindet zu diesem Grab hier. Zögerlich macht sich Bernhard auf den Weg. Was gibt es auf einem Friedhof schon Spannendes zu sehen am helllichten Tag? Und im Dunkeln möchte er hier auch nicht sein, höchstens mit Robert zusammen. Da könnte man sich trauen.
Also bleibt er lieber in der Nähe des Vaters, der ganz still steht, bis sich ein anderer Mann zu ihm gesellt. Bernhard schleicht sich leise an wie Winnetou und betrachtet aus seinem Versteck heraus den Fremden, der einen Bart trägt und wirre braune Haare. Er hat den Mann noch nie gesehen, doch so, wie er mit seinem Vater zusammensteht, muss es eine Heimlichkeit geben zwischen ihnen. Bernhard schleicht sich ein wenig näher heran, um etwas zu hören von dem, was die
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