Torstraße 1
hätte Elsa nehmen und mitgehen müssen. Nun sitzt sie fest, in diesem Lager von einem Land, diesem Käfig von einem Haus. Langsam geht sie zum Esstisch, nimmt eine Vase und wirft sie auf die Fliesen. Kniet sich in die Pfütze mit Blumenwasser und schließt die Hand um eine Scherbe mit scharfer Kante. Ein rotes Rinnsal tropft auf ihr Kleid. Doch dieses Mal kommt kein Schmerz, nichts, sie fühlt nichts. Das ist die Strafe, denkt sie, nicht mal mehr Schmerz. Sie öffnet die Faust und betrachtet das blutverschmierte Stück Glas. Es muss etwas geschehen, irgendetwas, damit der Albtraum ein Ende nimmt. Gäbe es doch Krieg!
Sehnsucht nach Amerika
Von der Reling um das oberste Geschoss hängen Hakenkreuz-Banner über die Fassade herab und verdecken die darunter liegenden Fenster. Die meisten Räume stehen ohnehin leer. Doch das soll sich bald ändern, der große Umbau der neuen Hausherren wird vorbereitet, der Hausherren von der NSDAP.
Baulärm dringt über die Kreuzung Lothringer Straße und Prenzlauer Allee, beinahe wie zu den Zeiten, als hier das Kaufhaus des Ostens gebaut wurde. Wilhelm steht vor der Mauer des Nikolaifriedhofs und denkt, dass auch Horst Wessel dazu beigetragen hat, die Grünbergs und das Jonass zu vertreiben. Das jüdische Kaufhaus war den Nazis bei ihren Aufmärschen zur Ruhestätte ihres Märtyrers im Weg. Nun soll die Reichsjugendführung einziehen in dieses Haus, das er mit eigenen Händen gebaut und für das er sich beinahe die Knochen gebrochen hat.
Wilhelm sieht zu, wie Lastwagen vorfahren, Bauarbeiter mit Leitern, Säcken und Eimern ein und aus gehen, und fragt sich, ob der eine oder andere Kollege darunter ist, der damals mit ihm beim Bau des Jonass dabei war. Der nun die früheren Schaufenster abdichtet und zahllose Wände einzieht für Hunderte kleiner Büros. Lieber in ewigem Dunkel und Dreck einen U-Bahn-Tunnel graben, denkt er, lieber betteln gehen, als hier mitzumachen an der Verschandelung seines Hauses. Nichts wird bleiben von den weiten Hallen, dem eleganten Raummaß, alle Proportionen werden zerstört sein, damit am Ende tausend kleinere und größere Reichsjugendführer von hier aus die Jugend führen können.In ihr Verderben. In den nächsten Großen Krieg. Wilhelm denkt an die Parole, die ihm einen Schauder über den Rücken gejagt hat, wendet der Kreuzung und dem annektierten Haus den Rücken. Doch die Parole tönt weiter in seinem Kopf, als er die Schritte beschleunigt. »Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!«
Sie tragen Uniform und Hakenkreuzfahne, schwarze Stiefel, die glänzen, und ein breites Koppel. Wenn man genug von ihnen hat, kann man sie in mehreren Reihen aufstellen und marschieren lassen. Kalle hat solche Figuren, und Bernhard möchte auch welche. Elastolinfiguren. Er hat geübt und kann das schwierige Wort nun aussprechen. Kalle hat sogar Hitler aus Elastolin. Der streckt den Arm schräg nach oben, und seine Haare glänzen wie die schwarzen Stiefel von dem Fahnenträger. Als Wilhelm Anfang Juni wissen möchte, was sich Bernhard zum sechsten Geburtstag wünscht, rückt er heraus mit den Elastolinfiguren. Sein Vater kriegt fast den Blick, wie er ihn bei Onkel Erich bekam, als der eines Tages in einer solchen Uniform hereinspazierte. »Diesmal gibt es nichts zum Spielen«, wirft Martha hastig ein. »Eine Schultasche müssen wir kaufen und eine neue Hose. Stifte. Das kostet alles.« Damit ist Hitler aus Elastolin gestorben.
Der kleine Arno fängt auf Marthas Schoß an zu weinen, als hätte man ihm und nicht Bernhard soeben sein liebstes Spielzeug verweigert. Bernhard kann das ständige Weinen und Wimmern nicht mehr hören. Seit der Hirnhautentzündung hat Arno das Laufen verlernt, und sein kleiner Kopf kann sich nichts richtig merken. Martha trägt den Jungen, der schon drei ist, so oft es geht auf der Hüfte. Ganz schief ist sie davon geworden. Noch immer näht sie für andere Leute, um Geld zu sparen für jenenTag, an dem es die Medizin geben wird oder die Behandlung, die Arno heilt. Der kleine kranke Bruder macht das Leben traurig, und manchmal wünscht sich Bernhard, dass er verschwindet. Sobald er das denkt, geht er zur Mutter und nimmt ihr das Kind von der Hüfte. Schleppt Arno durch die Zimmer, singt, pfeift und schneidet Grimassen, um ihn zum Lachen zu bringen. Doch Arno spricht nicht, und Arno lacht nicht. Bernhard kann es kaum abwarten, bald in die Schule zu gehen wie Charlotte. Dann wird er jeden Tag bis zum Mittag von der traurigen
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