Torstraße 1
sich am meisten auf Bernhard und Charlotte. An Martha wird man nicht viel Freude haben. Seit der kleine Arno tot ist, sieht man sie nur noch mit Trauermiene. Wilhelm kommt nicht, er wird ihrem Nazi-Ehemann nicht die Hand reichen wollen. Und wer weiß, vielleicht auch ihr nicht mehr.
Vor dem Einzug in Grünbergs Villa hat sie Wilhelm gefragt, ob er ihnen beim Umbau helfen wolle. Sie dachte, dass er vielleicht einen kleinen Zuverdienst brauchen könnte. Und dass es mit ihm leichter wäre, beim Umbau, auf dem Gerd bestand, so wenig wie möglich umzubauen. Aber Wilhelm hat abgelehnt auf jene Weise, die bei ihm bedeutet: Entscheidung getroffen, Überredungsversuche zwecklos. Dann hat er wohl doch nie geahnt, dass Harry Elsas Vater ist, hat sie damals gedacht, erleichtert und traurig zugleich. Oft hatte sie sich gewünscht, in Wilhelm einen heimlichen Verbündeten zu haben, einen, der ihr Handeln verstand und sie nicht verurteilt – wie Elsie es neuerdings tat.
Vicky stellt Vasen mit frisch geschnittenen Blumen aus dem Garten auf den Esstisch, zupft sie zurecht und hält inne. Was nützt es, wenn alles schön ist, aber die liebsten Menschen nicht da sind. »Ich setz keinen Fuß in eine gestohlene Judenvilla«, hat Elsie auf ihre Einladung geantwortet. Es konnte Elsie auch nicht umstimmen, dass Harry sie selbst gebeten hat, dort einzuziehen, und dass sie Gerd dazu gebracht hat, einen anständigen Preis zu zahlen. Anständig sei in diesem Land gar nichts mehr, hat Elsie gesagt, und wer da mitspiele, so wie Vicky, könne das Wort getrost aus dem Wortschatz streichen. Seit dem letzten September, als man Chaja abgeholt und die alte Frau mit Tausenden polnischstämmigen Juden ins Niemandsland hinter der Grenze verfrachtet hat, ist Elsie in diesen Dingen kompromisslos geworden. Aber die hat gut reden, denkt Vicky, sie hat auch kein halbjüdisches Kind. Noch einmal streicht sie alle Serviettenglatt. Es war richtig, dass sie niemals jemandem verraten hat, wer Elsas Vater ist. Gerd Helbig ist Elsas Schutz. Er wird es bleiben, bis der Spuk vorbei ist.
Vielleicht sollte sie zum Nachmittagskaffee noch etwas Musik heraussuchen? Im Regal neben dem Grammofon steht ein Stapel Schallplatten. In vorderer Reihe die offiziellen, Hans Albers, Zarah Leander, Schubert, Beethoven und natürlich Wagner. Sie weiß bis heute nicht, ob Gerd ihn wirklich gerne hört oder ob er bloß den Vorlieben seiner geistigen Führer folgt. Hinter verschlossenen Türen bewahrt Vicky ihre Jazz- und Swingplatten auf. Gerd weiß, dass sie in seiner Abwesenheit Negermusik hört, aber er gönnt ihr das kleine Geheimnis. Hektisch beginnt Vicky, den verbotenen Stapel durchzusuchen. Wo ist die Platte, die Harry ihr zum Abschied geschenkt hat? Nein, die darf sie jetzt nicht auflegen. Sie darf sie nicht auflegen. Nur einmal anschauen, das wird noch erlaubt sein. Nur einmal aus der Hülle in die Hand nehmen. Eine Sekunde auf den Plattenteller legen und zur Nadel greifen, davon geht die Welt nicht unter.
Es kratzt ein wenig, dann ertönt das letzte Lied: »Auf Wiederseh’n mein Fräulein, auf Wiederseh’n mein Herr. Es war uns ein Vergnügen, wir danken Ihnen sehr. Dieser Abend war so reizend und so wunder-, wunderschön. Wann kommen Sie wieder? Wann kommen Sie wieder? Damit wir uns wiederseh’n!«
»Siehst du«, hat Harry zum Abschied gesagt und ihre Tränen getrocknet, »die sind auch ausgewandert und singen weiter. Von Comedian zu Comedy Harmonists – zwei Buchstaben haben sie eingebüßt, weiter nichts.«
»Ihr sollt euer Haus heil und schön zurückbekommen«, hat sie geantwortet, »wenn ihr wiederkommt.«
Er hat über sie hinweg in die Ferne geschaut und gelächelt. »Wenn wir wiederkommen.« Und mit einem flüchtigen Kuss auf die Stirn war er fort. »Auf Wiedersehen, Vicky.«
»Damit, damit, damit wir uns wiederseh’n! Wann kommenSie, kommen Sie, kommen Sie wieder? Damit wir uns wiederseh’n.« Mit einem Ruck nimmt Vicky die Nadel von der Platte. Am liebsten würde sie alle Gäste ausladen. Was haben die hier zu suchen, in Harrys Zuhause? Was hat sie hier zu suchen? Sie hätte ihn heiraten sollen, ihm Schutz geben. Aber wovon hätten sie leben sollen, was wäre aus Elsa geworden? Aus Harrys Eltern und Schwestern? Er wäre doch fortgegangen aus Deutschland. Wie kann man in einem Land bleiben, wo Menschen nicht die Bänke im Park und das Wasser im Schwimmbad mit einem teilen. Die Luft zum Atmen.
Sie hätte mitgehen müssen! Auf einmal weiß sie es. Sie
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