Torstraße 1
Papier und einenStift. »L-i-be El-sa«, schreibt er. Dann kaut er lange auf dem Bleistiftende herum. Er beschließt, schleunigst richtig lesen und schreiben zu lernen.
Bald geht es leichter, und das größte Problem am Lesen ist es, genug Nachschub zu organisieren. Irgendwann bekommt er einen zerfledderten Band Winnetou in die Hände. Von da an ist klar, dass er mit Robert nach Amerika geht. Nicht weil er das müsste wie Robert, sondern weil man da genauso leben kann wie Winnetou. Besser jedenfalls als hier im Braunen Weg. Jetzt liegt er manchmal abends wach und muss denken und denken. Wie soll er es anstellen, dass auch die Eltern mitgehen nach Amerika, die von seinem Entschluss noch gar nichts wissen, und Charlotte und Arno, der immer dünner wird und kleiner, obwohl er doch wachsen sollte. Und was wird mit Elsa? Er sieht sie nur noch selten, seit ihre Mutter den reichen Mann aus dem Kaufhaus geheiratet hat, aber hin und wieder treffen sie sich, wenn Vicky Zeit hat. Beim nächsten Mal muss er Elsa fragen. Ob sie mitkommt.
Endlich ist der Tag gekommen. Vicky und Martha haben verabredet, mit den Kindern im Friedrichshain spazieren zu gehen. Die Mütter schieben beide einen Kinderwagen. Elsa hat jetzt auch einen kleinen Bruder, Halbbruder, sagt sie, und Bernhard fragt, ob ihr Halbbruder auch ein Halbjude ist. Da dreht sich Elsas Mutter zu ihm um, packt ihn am Kragen, und einen Moment sieht sie aus, als wollte sie ihm eine Ohrfeige verpassen. Oder ihm gleich den ganzen Kopf abreißen. Doch dann lässt sie ihn los und lacht. »Du kleiner Schlaumeier«, sagt sie, »da hast du wohl in der Schule nicht aufgepasst.«
Bernhard bleibt hinter den Müttern und Kinderwagen zurück und schießt Kiesel durch die Luft. Das hat er doch bloß so gesagt, ohne nachzudenken! Wegen Robert, und weil es so ähnlich klingt. Und weil es doch komisch ist, dass man ein halber Bruder oder ein halber Jude sein kann. Oder etwa nicht? Bisherhat er Elsas Mutter gemocht, aber jetzt wird sie womöglich auch so eine Zicke wie die Lehrerin. Elsa kommt zu ihm, und er tritt auch in ihre Richtung ein paar Kiesel, doch dann hält er inne. Ganz traurig sieht sie aus, trotz der Schleifen im Haar wie bei einer Prinzessin.
»Mach dir nichts draus«, sagt sie und schaut sich nach Vicky um, die bereits ein ganzes Stück mit Martha entfernt ist. »Ich hab auch schon Ohrfeigen gekriegt, wegen Schickse und so was.«
»Kommst du mit mir nach Amerika?«, platzt es aus Bernhard heraus. Elsa schaut erstaunt, und er erklärt ihr die Sache. Mit Robert und Winnetou und den Indianern. Doch sie weiß nicht recht. Da nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und fragt, ob sie auf ihn warten würde, ginge er nach Amerika. Lange läuft sie schweigend neben ihm her, und er denkt, dass sie gleich fragen wird, worauf sie denn warten soll und wo und wie lange, und dass er es selbst nicht weiß.
»Versprochen«, sagt sie. »Aber nur, wenn du mir aus Amerika jedes Jahr hundert Briefe schreibst.«
Kurz nach Weihnachten wird Arno wieder krank, und jetzt erwischt es ihn richtig schlimm. Martha ist außer sich. In den Nächten bleibt sie wach, über das Kinderbettchen gebeugt, um alle paar Minuten nach der heißen Stirn zu fühlen und zu lauschen, ob das Kind noch atmet. Zwei Mal laufen Martha und Wilhelm durch die kalten Straßen in die Notaufnahme des Wessel-Krankenhauses im Friedrichshain. Beim zweiten Mal behält der Arzt den kleinen Arno da. Von nun an eilt Martha jeden Tag gleich morgens früh ins Krankenhaus.
Charlotte und Bernhard gehen wie jeden Tag zur Schule und machen sich ihr Frühstück selbst. Manchmal kocht die Schwester mittags für sie beide, wäscht ihre Wäsche und putzt. An diesem Nachmittag spielt Bernhard mit Robert am Boxhagener Platz. Hier sind andere Jungs unterwegs, von denen keiner weiß,dass Robert ein halber Jude ist. Und wenn denen einer fehlt beim Fußball, lassen sie Bernhard und Robert mitmachen. Meistens spielen sie in der schwächeren Mannschaft, aber an dem Tag, da sind sie auf der Seite der Sieger.
»Komm«, sagt Bernhard zu Robert und schlägt ihm auf die Schulter. »Wir trinken bei uns noch eine Limonade.« Die Mutter wird bei Arno im Krankenhaus sein, denkt er, springt mit dem Freund die Treppen hoch und reißt die Tür auf.
Seine Mutter sitzt am Küchentisch, ihr Rücken bebt, doch kein Laut ist zu hören. Bernhard glaubt zuerst, den Vater habe es beim Bauen erwischt, so wie es einmal vor seiner Geburt geschehen ist. Im Kaufhaus Jonass. Da
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