Torstraße 1
beiden zu besprechen haben. Verstehen kann er sie nicht, doch plötzlich erkennt er den Fremden. Ein guter Bekannter, der schon so lange verschwunden ist. Bartlos war er früher und dunkelblond, der verwandelte Onkel Arno. Nie hat der Vater eine Antwort gegeben, wenn man nach dem Verbleib des Freundes fragte. Nun drückt Arno dem Vater etwas in die Hand, und der verstaut das Geheimnis eilig in der Jackentasche, während Arno schnellen Schrittes verschwindet, ohne zurückzuschauen. Wilhelm steckt die Hände in die Hosentaschen und bleibt vor dem Grab stehen,als hätte es das Wiedersehen nie gegeben. Bernhard wartet noch ein bisschen, bevor er sich zeigt. Damit der Vater nicht denkt, er hätte sie beobachtet. Es scheint ihm besser, so zu tun, als wisse er nichts von Onkel Arno und dessen Bart.
In der Schule machen sie einem wie Robert das Leben immer schwerer. Irgendwann fangen auch die Jungs an, ihn erst zu necken und dann zu ärgern. Saujud wird da nicht mehr so dahingesagt, und wenn irgendetwas schiefläuft, geht die Schuld immer zuerst an Robert. Zum Beispiel, als Heinrich den Ball mitten in die Kohlköpfe vom Gemüse-Ede schießt und dort ein kleines Chaos anrichtet. »Das war der Saujud«, brüllt einer von den Jungs, bevor sie alle davonstürmen. Alle bis auf Robert, der vom Grünkramhändler eine Backpfeife kriegt und dazu ein paar saftige Sätze, von wegen, der Führer werde das mit den Juden jetzt bald zu regeln wissen. Danach kommt Robert nicht mehr zum Spielen. Auch Bernhard ist seltener dabei, um seinen Freund nicht zu enttäuschen. Er hat durch Winnetou gelernt, dass eine Freundschaft an so etwas nicht zerbrechen darf. Schon gar nicht eine Männerfreundschaft.
Bernhard schlägt Robert vor, dass sie Blutsbrüder werden. Dazu treffen sie sich an einem Nachmittag im Herbst, kurz bevor es dunkel wird, hinter dem Schlesischen Bahnhof. Bernhard hat das kleine, scharfe Küchenmesser mitgebracht, dasselbe Messer, mit dem er Elsas Briefe öffnet. Robert und er überlegen, ob es am besten ist, sich in den Arm zu schneiden, um ihr Blut zu vermischen, oder ob ein Finger genügt. Robert ist für den Arm, und Bernhard stimmt zu, obwohl es ihm nicht geheuer ist.
»Das ist Rassenschande, was wir hier machen«, flüstert Robert und ritzt sich mit dem Messer einen blutigen Streifen auf den linken Unterarm. »Du darfst nie jemandem erzählen, dass du dein Blut mit meinem vermischt hast.«
Das hat Bernhard sowieso nicht vor. Er pikst sich mit demMesser in den Arm, bis zwei, drei Tropfen Blut kommen. Dann legt er die kleine Wunde auf Roberts größere, und nun ist es doch ein wenig feierlich geworden.
Nur wenige Wochen später schauen sie sich einen ganzen Nachmittag lang an, wie es aussieht, wenn das Einwerfen von Scheiben nicht bestraft wird, sondern erwünscht ist. Robert behauptet, so sei es allen Juden in der Stadt gegangen, die ein Geschäft oder ein Kino oder eine Werkstatt gehabt hätten. Und die Gotteshäuser der Juden habe man auch zerstört. Das glaubt Bernhard nicht. Wahrscheinlicher ist doch, dass nur hier im Wessel-Bezirk randaliert wurde, wo es immer mal wieder zu Schlägereien kommt. Aber nicht in ganz Berlin. Am Abend fragt er seinen Vater, der erst nicht antworten will und dann sagt, dass Robert wohl recht habe. »Aber man wird doch bestraft, wenn man die Sachen anderer Leute kaputt macht«, ruft Charlotte. »Wieso denn die Nazis nicht?«
»Das waren ja wohl nicht nur Nazis«, flüstert Martha und hält sich gleich die Hand vor den Mund, als hätte sie etwas Böses gesagt. »Die Schulzen erzählt, von unseren Nachbarn waren auch welche dabei. Weil es gegen die Juden geht. Da sind sie sich dann einig.« Wilhelm schweigt und nickt. Steht auf und zieht sich die Jacke über, gibt Martha einen flüchtigen Kuss auf den Scheitel und geht zur Tür hinaus. Bernhard fragt nicht, wohin der Vater läuft, zu oft hat der in den letzten Wochen abends die Wohnung verlassen, ohne dass die Mutter etwas dazu oder dagegen sagt. Manchmal glaubt Bernhard ja, der Vater trifft sich mit dem bärtigen Arno, um sich noch mehr geheime Botschaften übergeben zu lassen.
Als Robert aus der Klasse verschwindet, möchte Bernhard am liebsten auch nicht mehr in den Unterricht. Sein bester Freund, sein Blutsbruder muss nun auf eine jüdische Schule gehen. Manchmal treffen sie sich noch nachmittags, aber nichts ist mehr wie früher.
»Was ist mit Amerika?«, will Bernhard wissen, und Robert schüttelt den Kopf.
»Ich kann meine Eltern
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