Torstraße 1
Mutter und dem kranken Bruder fort sein.
Wilhelm geht in diesen Wochen jeden Morgen zeitig aus dem Haus. Bald ist Richtfest für die Deutschlandhalle, und er hat versprochen, Bernhard die Baustelle zu zeigen. Die Halle wird ein großes Bauwerk, und der Vater bringt jede Woche Geld nach Hause. Sobald er seinen Lohn abgeliefert hat, zieht die Mutter los, um für Arno Medizin zu kaufen. Pillen und Pflaster, Säfte und Tinkturen. Sie glaubt fest daran, dass irgendein Mittel den Jungen heil machen wird. Wilhelm schweigt dazu, nur einmal hat er ihr die Tüte aus der Hand gerissen und zum offenen Fenster hinausgeworfen. »Dahin geht das Geld, für das ich mir den Rücken krumm schufte«, hat er geschrien. Später haben der Vater und er die im Hof verstreuten Tabletten eingesammelt. Nur die braune Flasche war nicht zu retten, der klebrige rote Saft war voller kleiner Scherben.
In diesem Sommer ist er viel mit Kalle auf den Straßen unterwegs. Manchmal helfen sie dem Grünkramhändler beim Aufräumen oder Einpacken, dafür gibt es ein paar Mohrrüben oder Äpfel. Besser noch, wenn der Mann die lederne Geldbörse aus der ausgebeulten Hosentasche fingert. Dann laufen sie zum Bäcker um ein Milchbrötchen oder eine Zimtschnecke, die sie in der Mitte teilen und gemeinsam wegmampfen.
Kalles Schwester Marianne ist so alt wie Charlotte, so habensie auch ein Leid miteinander zu teilen. Große Schwestern wissen immer alles besser. Einmal zeigt Kalle Bernhard ein Kinderbuch, das seine Schwester bekommen hat. Auf dem Buchdeckel ist ein blonder, starker Mann zu sehen, der sich auf eine Schaufel stützt und dabei in die Ferne schaut. Kalle sagt, das Buch heiße ›Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid‹. Was das bedeutet, weiß Bernhard nicht, aber es klingt geheimnisvoll, und der blonde Mann sieht so aus, wie er auch einmal daherkommen will. Der dicke, hässliche Jude hingegen ist gewiss niemand, in dessen Haut man stecken möchte. Bernhard wird mit Kalle in dieselbe Schule kommen. Bei seinem letzten Besuch hat Kalles Mutter gesagt: »Jungs, tobt euch noch mal richtig aus in diesem Sommer. In der Schule werden sie euch ganz schön rannehmen.« Das klingt zwar auch nicht so gut, aber Bernhard will sich die Freude auf die Schule nicht verderben lassen.
Nur dass es in diesem Jahr kein Geburtstagsfest mit Elsa geben soll, ist traurig und ungerecht. Sie haben doch am gleichen Tag Geburtstag, sogar zur gleichen Stunde, und noch dazu war ein Wunder im Spiel, auch wenn er es nie so ganz verstanden hat. Immer haben sie zusammen gefeiert und jetzt plötzlich nicht mehr. Die Erwachsenen kann einfach keiner verstehen. Als er den Vater beim Abendbrot wegen der Geburtstagsfeier gefragt hat, schüttelte der den Kopf. »Elsa hat nun einen Vater«, gab er zur Antwort, als ob das etwas erklärte. »Vicky hat geheiratet und wohnt in einer großen Wohnung. Ist eine vornehme Frau geworden.« Als er entgegnet hat, dann könnten sie ja in der großen Wohnung feiern, meinte der Vater: »Da gehören wir nicht hin.« Und als die Eltern letztens beim Abendbrot über das Kaufhaus redeten, hat Wilhelm ein ernstes Gesicht gemacht und bemerkt, dass es nun auch nicht mehr lange gutgehen könne mit dem Jonass. Als Bernhard wissen wollte, wieso, hat der Vater nur geantwortet: »Es ist wegen der Besitzer.« Wenn es dasKaufhaus nicht mehr gibt, verschwindet vielleicht auch Elsa. Das kann er sich gar nicht vorstellen. Das darf nicht passieren. Er kann das nicht erklären, aber er weiß es: Ohne Elsa wäre nichts mehr wie früher.
In der Stadt ist schon jetzt eine große Aufregung wegen der Olympischen Spiele ausgebrochen. Ein Ausstellungszug nimmt Fahrt auf, um sich durchs ganze Land zu arbeiten und den Leuten zu zeigen, was hier in Berlin 1936 veranstaltet wird. Bernhard übt mit Kalle Diskuswerfen. Dafür laufen sie bis in den Friedrichshain und suchen sich einen flachen Stein. Kalle kann sich ziemlich gut um seine eigene Achse drehen und kriegt den Stein auch ein paar Meter weit geworfen, in welche Richtung, weiß man vorher allerdings nie. Bernhard kommt immer ins Stolpern und Wackeln, vielleicht sollte er lieber Fußballer werden. Noch wichtiger aber ist die Frage, ob er später zusammen mit Kalle zu den Pimpfen kommt. Kalle sagt, das dürfe man sich auf keinen Fall entgehen lassen. Mit den Pimpfen gehe es raus auf Abenteuerfahrt, und eine Uniform bekomme man auch. Bevor Bernhard den Vater fragt, will er sicherheitshalber bei der Mutter
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