Torstraße 1
nicht allein lassen. Ich muss sie beschützen, vor Hitler.«
Da muss Bernhard laut herauslachen. Wie will sein Freund Robert seine Eltern vor dem Führer schützen? »Der hat doch was Besseres zu tun, als sich mit deiner Mutter und mit deinem Vater zu befassen«, sagt er.
Robert wendet sich ab und lässt ihn stehen. Kommt vier Tage nicht auf die Straße, so lange, bis Bernhard zu ihm nach Hause geht, um sich zu entschuldigen. Robert nimmt die Entschuldigung an, aber die Blutsbrüderschaft hat einen Riss bekommen.
Zum zehnten Geburtstag gibt es noch einmal eine gemeinsame Feier mit Elsa. Ihr Vater hat zugestimmt, und so bekommen die Glasers eine Einladung in die Villa nach Lichterfelde. Wilhelm sagt, er werde da nicht mitkommen. »Ihr grüßt Vicky von mir und natürlich Elsa. Sagt, dass ich arbeiten muss, der Führer will, dass Germania wächst.«
Martha schaut vorwurfsvoll und traurig zugleich. Wilhelm hat Geheimnisse, das weiß Bernhard, und die Mutter weiß es auch. Aber sie werden nicht fragen, und Wilhelm wird nichts sagen.
So fährt Martha mit ihm und Charlotte allein nach Lichterfelde. Endlich kann Bernhard Elsas Zimmer in Augenschein nehmen. Vor dem Fenster bauschen sich Gardinen wie im Märchen, und über dem Bett schwebt ein Himmel aus dünnem Stoff. Es gibt Kuchen und Schokolade in Mengen. So etwas hat er noch nie gesehen auf einem Tisch. Und auch noch nie, dass Leute ein Zimmer haben, das eigens und nur zum Essen gedacht ist. So nennen sie es auch, Esszimmer. Mitten auf dem langen Tisch, der hier Tafel heißt, steht Elsas und seine Geburtstagstorte,mit ihren Namen und einer Zehn in himmelblauem Zuckerguss. Die hat Elsas Mutter extra für sie gebacken, wie sie erzählt.
Vicky trägt einen Verband um die rechte Hand, halb so schlimm sei das, hat sie zur Begrüßung gesagt und gelacht. Doch als sie die Torte anschneidet, quillt frisches Blut durch den Verband. Sie wird weiß im Gesicht, läuft aus dem Zimmer und kommt lange nicht zurück. Elsas neuer Vater redet und lacht viel und sieht dabei traurig aus. Und Elsa schaut komisch, wenn sie Vati zu ihm sagt, als müsse sie das Wort aus ihrem Mund pressen.
Als sie endlich in den Garten dürfen, nimmt Bernhard seinen ganzen Mut zusammen und fasst nach Elsas Hand. Er zieht Elsa hinter einen großen Fliederbusch, wo sie nicht zu sehen und nicht zu hören sind. Dann sagt er Elsa, sie möge die Augen zumachen. Die zögert erst und blinzelt, und als sie endlich stillsteht mit geschlossenen Augen, atmet Bernhard tief ein und drückt seine Lippen auf Elsas Lippen, sodass die nur noch einen erschrockenen Japser von sich geben kann, bevor sie die Augen aufreißt und kichert.
»Jetzt sind wir verlobt«, sagt sie dann ernst und nimmt Bernhards Hand. »Soll ich uns aus Mamas Schmuckschatulle zwei Ringe stibitzen?«
Das ist ihm zu viel des Guten. »Niemand darf wissen, dass wir verlobt sind. Wir machen ein Geheimnis draus«, sagt er, und Elsa ist sofort einverstanden. Der Helbig würde bestimmt Ärger machen, und Mama wäre wahrscheinlich auch nicht begeistert. Mit zehn Jahren ist man ja noch recht jung für eine Verlobung.
Sie läuft schnell ins Haus, in ihr Zimmer, kommt wieder und drückt Bernhard etwas in die verschwitzte Hand. Eine Kette mit einem Kleeblattanhänger. »Weißt du«, sagt Elsa und sieht plötzlich sehr erwachsen aus, »ich mach mir nichts draus, dassdu arm bist und einen jüdischen Freund hast. Die Liebe ist doch stärker als das alles.«
In diesem Sommer geht es Martha immer schlechter. Kaum, dass sie noch die Wohnung verlässt. Sie kocht und wäscht und überlässt Charlotte und Bernhard das Einkaufen und alle Gänge, die zu erledigen sind. Der Vater nimmt es hin, er hat eigene Sorgen. Noch mehrmals nimmt er Bernhard mit zum Pankower Friedhof. Wieder beobachtet Bernhard den Vater aus seinem Versteck. Lange steht Wilhelm vor dem Grabstein mit dem seltsamen Namen, doch niemand kommt. Onkel Arno ist und bleibt verschwunden.
Vier Mal geht Wilhelm umsonst den langen Weg, bis ihm beim fünften Besuch ein fremder Mann einen Zettel in die Hand drückt. Wieder verschwindet der Mann um die Ecke und der Zettel in der Jackentasche. Als Bernhard diesmal aus dem Versteck kommt und sich leise nähert, hört er etwas Unerhörtes. Der Vater weint. Sein breiter Rücken wird vom Schluchzen geschüttelt. Nicht einmal beim Tod des kleinen Arno hat er den Vater weinen sehen. Nun schlägt er die Hände vors Gesicht und reicht ihm den Zettel. Darauf steht: »Arno
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