Torstraße 1
verhaftet und ins Lager gebracht. Nieder mit dem Hitlerfaschismus!« Bernhard steht eine Weile stumm da, bevor er fragt: »Was für ein Lager?«
»Besser, wenn du es nicht weißt«, flüstert Wilhelm. »Du darfst den Nazis nicht trauen. Aber ich vertraue dir, Bernhard, dass du schweigen kannst wie ein Mann. Du bist jetzt ein großer Junge.«
Bernhard schwört sich, seinen Vater nicht zu enttäuschen. Er wird niemandem von dem Friedhof, von Arno und den Zetteln erzählen.
Am ersten September beginnt eine Zeit, die Wilhelm nur noch als Wahnsinn bezeichnet, und in der Schule sind sie fast alle diesemWahnsinn anheimgefallen. Kalle kriegt sich gar nicht mehr ein. Immer wieder versucht er, Bernhard die Sache mit dem Volk ohne Raum zu erklären, und dass dies nun bald ein Ende haben werde. Bernhard findet es in den Wohnungen im Braunen Weg zwar auch recht beengt, und ihm gefiele es, wären die Straßen etwas breiter. Aber so eng, dass es gleich einen Krieg darum geben müsste, findet er es auch wieder nicht. Kalle ist verzweifelt, wenn Bernhard solche Argumente anbringt. »Es geht doch nicht um den Braunen Weg«, ruft er dann. »Es geht darum, dass ein starkes Volk Platz braucht, um größer zu werden.«
Bernhard ist nun bei den Pimpfen. Dagegen kann niemand mehr etwas tun, seit es befohlen ist, dass man als Junge mit zehn in die Hitlerjugend zu gehen hat. Freuen kann er sich nicht darüber, dass er nun doch in die Uniform steigen darf. Man muss sehen, wie man durch diese Zeiten kommt, hat der Vater gesagt, und die Mutter möchte von gar nichts mehr etwas wissen, seit Krieg ist. Jede Woche fährt sie jetzt den weiten Weg zum Friedhof nach Gollwitz, wo die Eltern liegen. Die Brüder sind nur kleine Kreuze auf einem Stein, Namen zwischen anderen Namen. Ihre Knochen zerstreut in Lothringen und Flandern, niemand weiß es genau. Noch immer überläuft Bernhard ein Schauder, wenn er an die Inschrift denkt, die ihm die Mutter vorgelesen hat, als er an ihrer Hand vor dem großen Stein mit den vielen Namen stand. »Sie gaben ihr alles, ihr Leben, ihr Blut. Sie gaben es hin mit heiligem Mut. Für uns!«
An einem Nachmittag im November muss er hinaus zum Geländespiel. Einen halben Tag rennen sie durch den Wald und kriechen durchs Unterholz. Bernhard stolpert über eine Wurzel und fällt in ein Dornengestrüpp. Auf dem Heimweg beschließt er, der Mutter zu sagen, dass er nicht mehr zum Jungvolk gehen will. Lieber stellt er sich krank oder tot, als weiter diese langweiligen Spiele mitzumachen und sich Vorträge über Zucht undOrdnung anzuhören. Als Bernhard nach Hause kommt, ist es ungewöhnlich still in der Wohnung. Vielleicht ist die Mutter ja doch einmal nach draußen gegangen, hat sich erholt von ihrer Traurigkeit, hat den Kummer um den kleinen toten Arno und die Angst vor Hitler und dem Krieg vergessen. Aber so recht kann er nicht daran glauben.
Er schaut in die Küche, in das kleine Schlafzimmer der Eltern. Manchmal hat die Mutter seit Arnos Tod auch bei zugezogenen Vorhängen im Bett gelegen, wenn er von der Schule nach Hause kam, und gesagt, dass sie krank sei. Heute ist das Bett gemacht, die Decke über den Federbetten glatt gezogen. Er öffnet die Tür zu Charlottes und seinem Zimmer, doch auch Charlotte ist nicht zu Hause. Also geht er noch einmal in die Küche, denn es muss wohl ein Abendbrot gemacht werden, wenn bald der Vater nach Hause kommt.
Die Küche ist so blank und aufgeräumt, als stünde Weihnachten oder hoher Besuch ins Haus. Bernhard nimmt sich Brot aus dem Kasten, schneidet eine dicke Scheibe ab und holt Wurst aus der Kammer. Wenn niemand da ist, wird er eben alleine essen. Er hat einen Riesenhunger nach dem Gerenne durchs Unterholz. Eben will er in seine Stulle beißen, da sieht er das gefaltete Blatt Papier auf dem Tisch. Es wird doch kein Elsabrief sein, den jemand anders geöffnet und auf den Tisch gelegt hat? Womöglich gelesen? Aber nein, das ist nicht Elsas Schrift. Diese Schrift kommt ihm gar nicht bekannt vor, die Sätze sehen aus, als habe jemand bei jedem Wort absetzen und überlegen müssen.
»Verzeiht mir, dass ich fortmuss. Sucht mich nicht. Das Leben wird ohne mich leichter. Ich liebe euch, Martha.«
Bernhard wirft das Blatt von sich und springt vom Stuhl auf. Was soll das bedeuten? Fortmuss – wohin denn fort? Er läuft ins Schlafzimmer und reißt den Kleiderschrank der Eltern auf. Gott sei Dank, es ist alles noch da. Da kann sie ja nicht für lange fortsein, ohne ihre Kleider. Auch
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