Torstraße 1
der einzige Koffer liegt oben auf dem Schrank. Er hört, wie jemand zur Tür hereinkommt. Das wird sie sein, die Mutter, sicher ist sie nur einkaufen gewesen. Oder bei der Nachbarin. Er läuft in die Diele und steht Charlotte gegenüber.
»Was ist passiert?«, fragt sie, noch bevor er etwas gesagt hat. Er zieht die Schwester in die Küche und hält ihr das Blatt Papier unter die Nase. Charlotte liest und wird grau im Gesicht. Erst weiß und dann grau wie ein Pappkarton. Sie fasst nach der Tischkante, umklammert sie mit beiden Händen, und einen Augenblick sieht sie aus, als würde sie umfallen. Dann läuft sie ins Schlafzimmer, genau wie er es gemacht hat. Gleich wird sie sehen, dass die Mutter nicht weit fort sein kann. Wird sich beruhigen und ihm erklären, was die Sätze auf dem Küchentisch bedeuten. Doch Charlotte bricht beim Anblick der Kleider im Schrank ihrer Mutter in Tränen aus. Geht zur Kommode neben dem Bett, zieht eine Lade heraus und öffnet ein Kästchen. In der Schmuckschatulle liegt Marthas Ehering, den sie sonst immer trägt. Doch etwas anderes fehlt, Charlotte zeigt auf den leeren Platz auf dem blauen Samt, Bernhard weiß es nicht. »Arnos Zähnchen«, stößt sie hervor und bricht in ein unmenschliches Geheul aus.
»Hör auf!«, schreit er, packt die große Schwester bei den Armen und schüttelt sie. »Mutti kommt gleich. Sie kommt gleich!«
Es ist lange schon dunkel, als endlich der Vater nach Hause kommt. Sie hören, wie er die Wohnungstür öffnet, im Flur poltert, nach Martha ruft, in die Küche geht. Dann ist es eine Weile ganz still. Er tritt ins Schlafzimmer, macht Licht, geht zum Bett und nimmt Charlotte in die Arme. Schaut in den Kleiderschrank, zieht Bernhard zwischen Jacken und Röcken heraus, drückt ihn an sich. »Ich hol die Schulzen«, sagt er und wendet sich zur Tür. »Sie bleibt heute bei euch.«
Bernhard will ihn aufhalten, stellt sich ihm in den Weg, schreit: »Wohin gehst du?«
Doch der Vater schiebt ihn sanft beiseite und gibt keine Antwort. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
»Zur Polizei«, sagt Charlotte, und ihre Stimme klingt nun ganz ruhig. »Er geht zur Polizei.«
Luftbrücken
Auf dem Dach flattern rote Fahnen im Wind. »Frieden sichern!« verkündet ein Plakat über dem Portal, und auf einem roten Banner steht in großen Buchstaben »Es lebe die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands«. Nur ganz selten fährt ein Auto über die Kreuzung zur Lothringer Straße. Kein Laut dringt aus dem Inneren des riesigen Gebäudes. Alle Fenster sind geschlossen.
Das mächtige Haus mit seinen Seitenflügeln überragt die umstehenden Gebäude mit ihren durchlöcherten Fassaden, abgestützten Dächern und maroden Mauern, von denen manche noch immer aussehen, als könnten sie jeden Augenblick zusammenbrechen. Ein paar Grundstücke weiter klafft eine Lücke, wo ein Volltreffer niederging und die Häuser in Flammen setzte. Gleich nachdem in der Zeitung stand, dass das Viertel nördlich des Alexanderplatzes schwere Bombenschäden erlitten hatte, war ihre Mutter mit ihr hergefahren, um nach dem Haus zu sehen. Lange hatten sie schweigend vor dem rußgeschwärzten, doch nahezu unversehrten Gebäude gestanden. Das Jonass hatte die Bomben und Granaten überlebt.
Und doch ist es nicht mehr das Jonass. In ganzer Breite um den Vorsprung zwischen erstem und zweitem Stock trägt das »Haus der Einheit« ein rotes Banner, als hätte man ihm eine Schleife umgebunden. Darüber das Bild mit den Konterfeis von Marx, Engels, Lenin und Stalin – wie eine rote Pappnase kommt es ihr vor, die man dem wehrlosen Haus angeklebt hat. Wo Grünbergs ihre Kontore hatten, sind Wilhelm Pieck und Otto Grotewohleingezogen. Das Kaufhaus, »Jeder Preis ein Schlager«, ist nun eine Schaltzentrale der Macht. Doch immer noch besser diese Machthaber als ihre Vorgänger von der NSDAP, denkt Elsa. Da wird ein Vorhang zurückgezogen und ein Fenster aufgerissen. Ein Gesicht schaut heraus, schaut sie an?
Sie hat das Gefühl, von dort oben genauestens in Augenschein genommen zu werden. Hat da jemand ihre Gedanken gelesen, ihre Frage, wie komme ich jemals wieder hinein in diese Festung? Das Fenster wird geschlossen, die Gestalt verharrt an ihrem Platz. Sie winkt dem Schemen hinter der Scheibe, doch niemand winkt zurück. Der Vorhang im »Haus der Einheit« wird zugezogen.
»Die Amis kommen!« Klaus und Werner Helbig stehen auf dem Trümmerberg zwei Straßen hinter ihrem Haus und beobachten die einfliegende
Weitere Kostenlose Bücher