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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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du mal …« Da keine Antwort kommt, geht erzurück in ihr Zimmer. Einen Augenblick später stürzt er zum Tisch. »Wo ist er?!«
    Nach Gummi stinkender Qualm steigt aus dem Ofen. Werner reißt die Ofentür auf und blickt auf ein verschmortes Etwas und ein Stück kokelndes Papier. Er will mit bloßen Händen in die Glut greifen, doch Klaus packt ihn an den Handgelenken, zieht ihn vom Ofen fort und drückt ihn zu Boden. Während er rittlings auf ihm sitzt und Werners Arme über dem Kopf festhält, zischt er: »Diese Gummipuppe hat der Feind abgeworfen. Dieselben Yankees haben unseren Vater getötet! Und du schämst dich nicht, ihre Schokolade zu fressen!«
    Es klappert an der Wohnungstür, Vicky steht im Zimmer, beladen mit einer Tasche und einem Rucksack, aus dem Reisigzweige ragen. »Was ist denn hier los? Hört sofort auf! Eure Mutter steht sich die Füße wund, schleppt für euch das Futter herbei, und ihr …«
    Da jault Werner auf. »Mama, ein Kehrpaket! Ich hatte ein Kehrpaket für dich! Klaus hat den Gutschein verbrannt!«
    Klaus lässt Werner los und steht auf. »Ja, mit Liebesgrüßen von den Juden und Negern aus Amerika!«
    Vicky packt Klaus, der nur noch einen Kopf kleiner ist als sie, am Kragen und schüttelt ihn. »Weißt du überhaupt, Bürschchen, was ein CARE-Paket bedeutet? Vierzigtausend Kalorien! Siebentausend Westmark! Tausend Zigaretten! Und du willst dich als deutscher Held aufspielen?«
    Sie verpasst ihm eine Ohrfeige. Im selben Moment schlägt Klaus zurück. Vicky taumelt und fasst sich an die Wange. Beide schauen einander fassungslos an. Dann rennt Klaus in die Diele und poltert das Treppenhaus hinunter.
    »Und eins, und zwei, und drei, und vier!« Elsa nimmt den Karton von ihrer Vorderfrau entgegen und reicht ihn dem Mann, der hinter ihr steht. Eiskalter Nieselregen glänzt im Licht derScheinwerfer, die das Rollfeld erleuchten. Bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit wird hier gearbeitet, in drei rotierenden Schichten. Wenn die Flugzeuge bereit zum Entladen sind, kommt es auf Minuten, Sekunden an. Keine halbe Stunde nach der Landung soll die Maschine wieder starten, zurück nach Westdeutschland. »Es liegt in euren Händen«, hat der Schichtführer gesagt, »dass Berlin nicht verhungert!« Elsas Schicht lädt Lebensmittelpakete aus. Trockennahrung. Aus dem Flieger links von ihnen wirft eine Gruppe junger Männer über eine Rampe Kohlesäcke auf den bereitstehenden Lastwagen, rechts sind es Papierrollen für den Zeitungsdruck. »Und eins, und zwei, und drei, und vier!« Noch ein Karton und noch ein Karton. Der Körper dreht sich fünfzig Grad nach links, fünfzig Grad nach rechts. Die Arme bewegen sich im Takt, die Finger greifen, lassen los, greifen. Die Kette der Hände, durch die die Fracht wandert, darf nicht unterbrochen werden.
    Es ist sechs Uhr abends, stockfinster. Ihre letzte Maschine für heute. Elsa spürt Arme und Hände nicht mehr, alles von Kopf bis Fuß taub. Immer war sie Teil so einer Kette gewesen, denkt Elsa, während sie den letzten Karton dieser Schicht entgegennimmt. Beim BDM, als sie im Akkord Päckchen für die Helden an der Front packten. Später, als Schutt und Asche ihrer Stadt durch die Hände wanderten. Lauter Frauenhände. Auch damals hat man gar nichts gespürt, erst nachts auf der Matratze schmerzten die Knochen. Elsas Arme, vom Gewicht befreit, fallen schlaff herab. Die anderen scheinen ebenso in sich zusammenzusacken, als ihre Gruppe das Rollfeld verlässt und Richtung Halle schlurft.
    Elsa hängt ihren von Schweiß und Nieselregen feuchten Kittel an den Haken. Einen Moment noch aufwärmen in der Halle, bevor sie zu Fuß den Heimweg antritt. Ein Glück, dass sie die Wohnung in Tempelhof bekommen haben. Als sie so nah an den Flughafen zogen, ahnte noch niemand, dass dieser einmalim Mittelpunkt der Weltgeschichte stehen würde. Wer weiter weg wohnt, muss abends zusehen, wie er nach Hause kommt. Wegen der Stromsperren ist um sechs Uhr abends Schicht im U-Bahn-Schacht und für die Straßenbahnen. Ingrid, die einen kriegsversehrten Mann und zwei kleine Kinder zu Hause hat, läuft über eine Stunde quer durch die dunkle Stadt. Von Ingrid hat sie letzte Woche in der Pause heimlich Skizzen gemacht. Wie sie den Kittel bis oben zuknöpft, mit zusammengepressten Lippen die Haare unter das Kopftuch steckt. Die fahle Haut und die tiefen Falten um ihre Augen, obwohl sie noch keine dreißig ist – und die Augen selbst, blank und blau wie ein Julihimmel. Als gehörten sie in

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