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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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fragte Bernhard in die Dunkelheit. »Was denn?«, flüsterte sie. »Die Sprungfedern stechen im Hintern!« Beide prusteten los und konnten sich kaum beruhigen. »Hast du den Rest Wein auch ausgesoffen?« – »Quatsch!« – »Na, dann tun wir’s doch jetzt!« Sie tappte im Dunkeln durch das Zimmer, schlüpfte wieder zu Bernhard unter die Decke und hielt die halb volle Flasche in der Hand. »Auf unseren sechzehnten Geburtstag, den wir nicht zusammen gefeiert haben!« Sie nahm einen Schluck, reichte ihm die Flasche. »Und auf unseren fünfzehnten! Und vierzehnten!«, prostete Bernhard ihr zu. »Auf unsere letzte Begegnung in unserem Haus!«, sagte sie. »Du hattest diese kackbraune Uniform an.« – »Du sahst nicht besser aus«, entgegnete er. »Außerdem fandest du sie schick!« Sie lachte. »Ja, aber jetzt bin ich entnazifiziert!«
    Dann war ihr nacktes Bein doch an Bernhards Bein gerutscht. Sie ließ es dort liegen, obwohl ihr gar nicht mehr kalt war. Eher ziemlich heiß. Sie reichte Bernhard die fast leere Flasche: »Auf unsere Verlobung!« Er kippte den letzten Schluck herunter. »Die müssen wir dringend erneuern, sonst läuft sie ab!« Seine Stimme überschlug sich. Er zog sie an sich und drückte ihr einen feuchten Kuss auf die Lippen. Sie schnappte nach Luft und wischte sich über den Mund. »Tut … tut mir leid«, stammelte Bernhard und verstummte, als sie seinen Kuss erwiderte. Mit geschlossenen Lippen, die sie ein wenig öffnete, bevor sie mit der Zungenspitze zwischen seine Lippen tauchte. Beide stöhnten auf. Bernhard zog sie an sich, ihre Herzen hämmerten gegeneinander. Plötzlich stieß sie ihn weg. Er gab einen Laut von sich wie ein junger Hund, dem man aus dem Hinterhalt einen Tritt versetzt hat. Sie stand auf. Die Narben an den Handgelenken. Elsies Handgelenken. Sie konnte an nichts anderes denken.
    Sie stolperte aus dem Zimmer, kroch in ihr Bett. Lag zitternd unter der Decke, zitternd vor Sehnsucht nach Bernhard oder zitternd aus Angst vor ihm. Nein, sie war ganz und gar nicht heil geblieben, dachte sie da, und dass ein Mensch, der dabei war, wie man andere Menschen vor seinen Augen kaputt machte, vielleicht ebenso wenig heil bleiben konnte wie ein Haus inmitten einer zertrümmerten Stadt. Wie das Jonass zum Beispiel, das unversehrt zwischen klaffenden Lücken und Trümmern stand. Lange lag sie wach und wartete, ob es an ihrer Tür klopfen, jemand hereinkommen würde. Es kam niemand. Nur dieser Traum. Wie die Narben aufrissen, das Blut herausquoll, die Hände rückwärts von den Gelenken hingen, abgeknickt wie Blüten. Mit Nadel und Faden haben sich ihre Hände den Handgelenken genähert. Bevor sie mit der Nadel in das Fleisch stechen konnte, brach der Traum ab. Begann von vorne, immer wieder, bis zum Morgengrauen.
    Und dann, denkt Elsa, während sie in einen fiebrigen Schlafgleitet, hab ich Bernhard vor dem Frühstück den silbernen Tannenzapfen auf seinen Teller gelegt. Bevor ich wieder ins Bett geschlüpft bin, wo ich den ganzen Tag krank gespielt hab. Bis Bernhard endlich weg war. Und Elsie. Vielleicht war ich auch krank. Kein Wort zum Abschied, nur einen Tannenzapfen, um ihm zu sagen, ich hab dir verziehen oder so was. Der arme Junge, er hatte doch bloß … Sie sucht nach dem Wort aus der Zeitschrift, die Elsie ihr geliehen und die sie tief unter ihrer Wäsche versteckt hat. Und murmelt, bevor sie wegdämmert, »eine Erektion«.
    »Hello Frollein!« Elsa dreht sich nicht um. Der GI auf dem Fahrrad holt sie ein und klopft auf den Gepäckträger. »Spazierenfahrt?« Er kurvt noch einmal um sie herum und ist verschwunden. Kurz darauf fährt er lachend an ihr vorbei, auf dem Gepäckträger ein blondes Fräulein. Eigentlich sah er nett aus. Aber Elsa mag keine Uniformen mehr. Weder braune noch graue noch blaue.
    »Eigener Stromgenerator!«, wirbt das Kino am Kurfürstendamm, in Leuchtschrift wie zum Beweis. Ein Plakat verkündet: »Die Garbo lacht!« Elsa hat ›Ninotschka‹ schon gesehen. Lächelnd denkt sie an den Vorspann. »Ein Film aus jener sagenhaften Zeit, als das Ausknipsen der Nachttischlampe noch nicht Stromsperre bedeutete …« Doch was es bedeutet, das Ausknipsen der Nachttischlampe, das weiß sie mit ihren neunzehn Jahren noch nicht so genau. Sie hofft nur, dass es möglichst wenig zu tun hat mit dem, was die Soldaten mit Frauen machen. Ihre Mutter will nicht, dass sie in diesen Dingen Bescheid weiß. »Lass dir mehr Zeit als ich«, sagt Vicky nur, wenn sie versucht, mit ihr

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