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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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eigene Idee, hierherzukommen.«
    Früh am nächsten Morgen macht sich Elsa auf den Heimweg. Diese Nacht wird sie nicht so bald vergessen. Ihr erster verbotener Besuch in einer Ami-Bar, das Aneinanderkleben mit Tony – eine Viertelstunde lang ist man unzertrennlich und steht fünf Minuten später unbeteiligt abseits –, ihre erste Razzia, abgesehen von den Razzien auf dem Schwarzmarkt, bei denen sieimmer entkommen ist. Eine Nacht auf der Polizeiwache. Nach der Feststellung, dass es keinen einschlägigen Eintrag über sie gibt, hat man sie mit einer Verwarnung entlassen.
    Vor der U-Bahn-Station hat sich eine Menschentraube um den ockerfarbenen RIAS-Rundfunkwagen gebildet. Wenn man schon im Mittelpunkt des Weltgeschehens steht, will man trotz Stromsperre und stummer Radioapparate auch etwas davon mitbekommen. Alte Frauen und Männer umlagern den Wagen, Mütter mit Kindern an der Hand. Alle lauschen dem RIAS--Sprecher, der auf dem Wagen sitzt und übers Mikrofon die Nachrichten verliest. Er spricht Deutsch mit amerikanischem Akzent. Einem umwerfenden amerikanischen Akzent. Elsa drängelt sich durch die Menschen bis in die erste Reihe, um den Mann zu sehen. Er trägt einen hellen Trenchcoat und eine Baskenmütze. Elsa hofft, dass heute unendlich viel Berichtenswertes auf der Welt geschehen ist. Aber irgendwann hört der zauberhafte Singsang auf. Die Menge der Zuhörer zerstreut sich. Nur Elsa bleibt stehen und schaut zu, wie der Mann Manuskript und Mikrofon verstaut. Gleich wird er weiterfahren. Sie geht zu dem Wagen und klopft gegen die Tür. »Hello Mister«, sagt sie, »Spazierenfahrt?«
    Ob das schon drei Kilo sind? Vicky hat die Knochen auf dem Küchentisch auf einer alten Zeitung ausgebreitet. Seit Monaten sammelt sie Knochen, ein Tipp der Nachbarin, die beim Krämer um die Ecke das Schild entdeckt hat: »Gegen Abgabe von 3 kg Knochen 1 Gutschein für ein Stück Kernseife«. Kernseife braucht sie jetzt dringend. Ständig kommen die Jungen mit schmutzigen Sachen nach Hause, weil sie auf den Schuttbergen herumklettern. Wenigstens bringen sie manchmal Metall oder Glas mit, das man eintauschen kann. Oder von den Lastwagen herabgefallene Kohlenstückchen, die sie aufsammeln. Vielleicht auch selbst herunterholen. Besser, man weiß manches nichtso genau. Vicky wiegt einen der Knochen in den Händen und seufzt. Am liebsten hätte sie die Jungen mit der Kinderluftbrücke ausfliegen lassen über den Winter, aber sie hat keine Verwandten in Westdeutschland. Werner will unbedingt Pilot werden. Meistens lungert er nach der Schule mit den Nachbarsjungen am Flughafengelände herum. Einen Shmoo für ein CARE-Paket hat er nicht noch einmal erwischt, aber den Jungen kann man auch mit einem Riegel Schokolade tagelang in Glück versetzen. Beneidenswert, so ein sonniges Gemüt. Ganz im Gegensatz zu Klaus, der immer verschlossener wird. Von ihr lässt er sich schon gar nichts mehr sagen. Elsa bekommt sie auch kaum noch zu Gesicht. Ob das stimmt mit ihren ständigen Sonderschichten am Flughafen? Blass und müde genug sieht sie aus. Sie isst zu wenig und raucht zu viel. Gleich nach Kriegsende hat sie angefangen mit der Qualmerei, als halbes Kind. Aber mehr noch als die Zigaretten besorgt sie Elsas neues Lächeln – wie von innen angeleuchtet. Wenn sie sich beobachtet fühlt, knipst sie es sofort wieder aus. Auch eine Art Stromsperre.
    Plötzlich steht Vicky ein Bild vor Augen, unscharf wie die flackernden Bilder in den Stummfilmen, dann schärfer und in Großaufnahme: das Gesicht einer jungen Frau mit dunklen Locken, die selig lächelnd aus dem Fenster schaut, auf eine dämmrige Straße, in der es nichts zu sehen gibt. Sie schaut und lächelt, sieht nichts und lächelt – und jetzt beginnt sie zu summen, es gibt also doch schon Ton in diesem Film, Vicky summt mit und klopft den Takt mit den Filzpantoffeln. »Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir. Was braucht man beim Küssen …« Bananen! Vicky wusste damals gar nicht, wie Bananen aussehen, bis sie im Jonass zur »Exotischen Woche« welche hatten, die erst keiner wollte und die sich die Leute dann aus den Händen rissen. Bananen … Sie muss Elsa unbedingt fragen, wie der junge Mann heißt.Vicky hat die Knochen gegen Kernseife getauscht und die alte Zeitung wieder mit nach Hause genommen. Sie will sie auf den Stapel Altpapier legen, da bleibt ihr Blick an einer Überschrift hängen. Ausstellungseröffnung, liest sie. »Carola Greenberg, die bekannte Fotografin aus

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