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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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noch einlösen kann? Es ist ja nur, weil sie solche Angst hat. Angst um Elsa.
    »Und eins, und zwei, und drei, und vier!« Elsa nimmt den Karton mit Glühbirnen und reicht ihn weiter. Ein Flugzeug nach Westdeutschland wird beladen. Auf jeder Kiste ein Stempel mit einem Bären, der die um ihn geschlungene Kette sprengt: »made in blockaded Berlin«. Der Körper dreht sich nach links, nach rechts, automatisch geht das, und ohne zu denken. Es macht nichts, dass sie so müde ist, solange sie nicht umfällt. Zum Umfallen ist ihr aber heute, sie hätte nicht so viele Essensmarken gegen Zigaretten tauschen sollen, und mehr als fünf Stunden Schlaf können’s auch wieder nicht gewesen sein. Wenn sie doch nur eine kleine Pause machen könnte, sich den Pullover unterm Kittel ausziehen, ganz verschwitzt ist sie, die Kartons werden immer schwerer, wieso haben die heute die schwersten alle nach hinten gepackt?
    Komisch, dass sich die Lampen an der Decke drehen. Die Wände. Jetzt auch noch Gesichter über ihr. Können die nicht stillstehen, müssen sie so herumwirbeln? Da wird einem ja ganz schwindlig. Schnell die Augen wieder schließen. Sie hört eine Stimme, auch die scheint sich zu drehen, aber viel zu langsam. Tief und verzerrt klingt das.
    Rechts und links ein Klaps gegen ihre Wangen. Endlich versteht sie etwas. »Wach auf, Mädchen! Wach auf!«
    Sie schläft doch gar nicht. Wie auch, bei dem Trubel. Die sollen sie in Ruhe lassen. Ihr Kopf kippt zur Seite.
    Heute darf sie mit Bernhard im Kaufhaus spielen! Mama ist fröhlich und so wunderschön. Sie trägt einen Rock und eine Bluse mit einem Schild, da steht JONASS drauf. Dann ist Mama verschwunden, und auch Bernhard und sie verschwinden abwechselnd zwischen den Kleiderständern. Irgendwann sind alle Lichter erloschen, und es ist totenstill. Bernhards Hand ist eiskalt und wie tot. Auch Mama ist tot.
    »Sie ist weggetreten!«
    Tot? Weggetreten? Ja, was denn nun. Elsa öffnet die Augen, wenn nur nicht die Lider so schwer wären, dicht über ihr schwebt ein hageres Gesicht unter einem Kopftuch, ihre Mutter ist das nicht. Trockenkohl, sie muss an Trockenkohl denken, aber den hat es im Jonass zum Glück nie gegeben. Jonass. Bernhard. Mama. Sie muss wissen, wie der Traum weitergeht. Die Frau soll sie schlafen lassen. Sie dreht den Kopf zur Seite, auf der Wolldecke steht »US Airforce«.
    In die Stille der leeren Kaufhaushalle hallt lautes Stöhnen. Sie möchte sich die Ohren verschließen, im Boden versinken. Vor einer Kabine bauscht sich ein Vorhang. Endlich hört das Stöhnen auf, der Vorhang öffnet sich. Schnell weg, bevor sie herauskommt. Bernhard soll sie hier wegbringen.
    »Bernhard!«, hört sie sich schreien. Elsa richtet sich auf. Jemand hat ihr kaltes Wasser ins Gesicht geschüttet. Ingrid! Was will die von ihr? Sie sieht vorwurfsvoll aus und besorgt.
    »Wer ist Bernhard?«, fragt sie mit strenger Stimme.Vicky schlägt den Mantelkragen hoch. Die Leute stehen so gedrängt, dass sie nur einen Platz vor einem offenen Fenster bekommen hat, durch das eisiger Fahrtwind weht. In diesem S-Bahn-Wagen fehlen noch besonders viele Scheiben, trotzdem riecht es muffig. Die meisten tragen noch ihre Wintermäntel, tagein, tagaus dieselben Kleider. Seit ein paar Tagen gibt es wieder Waren in den Läden, Kleidung, Seife, Küchengeräte. Die Ladeninhaber ernten böse Blicke, weil sie die Sachen gehortet haben. Wegen mangelnden Vertrauens in die Währung, wie sie sagen. Jetzt nach der neuen Währungsreform im Westen haben sie das Zeug aus den Lagerräumen geholt. Werner braucht einen Ranzen und Klaus neue Schuhe, die alten sind völlig durchlöchert. Sie würde auch gerne einmal etwas anderes tragen als umgearbeitete Gardinen und Kittelschürzen. Doch auch wenn viele Dinge wieder zu haben sind, umsonst sind sie nicht.
    Eine Frau klopft gegen die Zeitung ihres Nachbarn. »Stecken Se die man lieber weg, gleich sind wir beim Russen.« Schnell faltet der Mann den »Tagesspiegel« zusammen, rollt ihn ein und verstaut ihn tief in der Aktentasche. Die Frau erzählt, dass ihre Schwägerin kürzlich eine Nacht auf dem Revier verbracht hat, weil sie in der Ringbahn bei einer Polizeikontrolle mit einer Westzeitung erwischt worden ist. »Schmuggelware«, schimpft die Frau, »det ick nich lache!«
    Vicky presst die leere Einkaufstasche an die Brust und versucht, nicht an den Inhalt ihrer Strümpfe zu denken.
    Sie steigt aus und läuft zum Dreiländereck um den Potsdamer Platz, das Areal der Schmuggler

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