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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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und Grenzpolizisten. Zwar sind die Zeiten vorbei, in denen rund um das Columbushaus der Schwarzmarkt blühte, doch auch heute noch hat jeder etwas zu handeln und zu tauschen.
    »Ami … Stella, Ost gegen West, Schokolade … Bulgaren«, flüstert und zischt es in den Seitenstraßen. Einmal ist einer ihrer Stiefelabsätze bei den Russen zurückgeblieben, als sie bei einerRazzia auf dem Platz die paar Meter in den britischen Sektor flüchten wollte. Seit Beginn der Blockade ist die Sektorengrenze mehr als ein weißer Strich quer über den Potsdamer Platz. Es kommt ihr vor, als könne sie die Spannung zwischen Soldaten, Grenzpolizisten und Einwohnern einatmen und riechen. Ob die neue Währungsreform im Westen nicht die Kriegsgefahr erneut erhöhe, war in den letzten Tagen im Rundfunk und auf den Straßen diskutiert worden. Vicky weiß nicht recht, ob sie die Antwort von General Howley beruhigend findet, es seien keine Gegenmaßnahmen zu erwarten, die die Brutalität der Blockade Berlins übertreffen könnten.
    Die Mitte des Platzes ist leer, ein Nichts, umkreist von Grenzpolizisten. Wo einst Verkehr rauschte, Menschen flanierten und in den Straßencafés saßen, fegt Wind über den leeren Platz, durch Straßen ohne Häuser, Häuser ohne Wände und Dächer. Die Trümmerhaufen sind fortgeräumt, Türen und Fenster der Ruinen in den unteren Stockwerken zugemauert. Quer über den Platz sieht Vicky die Überbleibsel des »Haus Vaterland«. Ein Gerippe ist das »Vaterland« seit dem Krieg, sechs ausgebrannte Stockwerke, überspannt von den verbogenen Metallträgern der Kuppel, hoch oben der Schriftzug. Das »Haus« noch komplett, das »Vaterland« ausgedünnt, inzwischen hat man die fehlenden Lettern ergänzt.
    Vicky bückt sich und tastet nach der kleinen Delle in ihrem Strumpf. Wie hatte das »Vaterland« geleuchtet an jenem Abend, am 31. August um halb neun abends, als sie den Platz überquerte, mit Gänsehaut im Nacken, auf dem Weg zum Rendezvous mit dem Unbekannten. Wie eine Krone strahlte die Kuppel, in warmem Gelb leuchteten die Fenster, hinter denen, so hatte sie es sich damals gedacht, lauter glückliche, reiche Menschen saßen. Die Ohrringe mit den Smaragden hat sie getragen, die Harry ihr geschenkt hatte, und sich wie eine Verräterin gefühlt, auf dem Weg zum Treffen mit dem anderen, wie sie dachte. Auchjetzt kommt sie sich wie eine Verräterin vor, während sie seine Ohrringe in den Strümpfen zu Markte trägt.
    »Vicky! Vicky, bist du das?« Sie fährt zusammen und muss zweimal hinsehen im dunklen Hausflur, bis sie den Mann erkennt, mit dem sie beinahe zusammengestoßen wäre.
    »Wilhelm!« Einen Moment lang nehmen sie sich in die Arme, lassen los, schauen sich um und treten ein Stück auseinander.
    »Was machst du denn hier?«, fragen beide zugleich. Was soll man schon machen, hier in diesem Haus, dessen Haupteingang nach Osten und dessen Hintereingang nach Westen geht.
    »Ach, ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen«, sagt Wilhelm. »Und du?«
    »Ich nach dem Linken.«
    Wilhelm schmunzelt. »Hast du es schon gefunden?«
    Vicky schüttelt den Kopf. Die Ohrringe zu versetzen hat sie nicht übers Herz gebracht. Sie piksen weiterhin an ihrem Fußknöchel. Auch die Medikamente ist sie nicht losgeworden, weil das Verfallsdatum überschritten ist und man sie deshalb angeblich nicht weiterverkaufen kann. Die paar Wochen! Jetzt geht sie mit leeren Händen nach Hause. Schritte nähern sich. Andere Schmuggler oder Polizisten?
    »Lass uns hier verschwinden, Vicky«, sagt Wilhelm. »Ich lad dich auf einen Kaffee ein. Einen echten.«
    Diesen Geschmack hat sie fast vergessen. Echter Kaffee verursacht ihr neuerdings Herzklopfen. Oder ist es die Freude, Wilhelm wiederzusehen? Einen Freund aus glücklichen Zeiten. Alles, was vor dem Krieg war, zählt zu den guten Zeiten, und vor ’33, da lebten sie in goldenem Glück, oder nicht? Vicky und Wilhelm stoßen mit den Kaffeetassen an, als wäre es Champagner. Er hat tiefe Furchen im Gesicht. Graues Haar. Ziemlich alt sieht er aus für seine siebenundvierzig Jahre, denkt sie. Kein Wunder, er hat viel mitgemacht im Krieg. Immerhin war erso klug, am Ende zu den Russen überzulaufen, statt sich im totalen Krieg für den Führer erschießen zu lassen. Sie war froh, als er ihr beim ersten Wiedersehen nach Kriegsende erzählte, dass er wegen einer Verwundung im Lazarett war und erst ’46 heimgekehrt ist. Dann war er nicht bei den Plünderungen und Vergewaltigungen dabei, hatte sie

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