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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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Amerika, zeigt zum ersten Mal ihre Aufnahmen aus dem Nachkriegsberlin. … Auch frühe Aufnahmen der damaligen Studentin aus dem Berlin der Hitlerzeit, darunter die berühmte vom Zigeunerlager in Marzahn …« Carola Greenberg aus Amerika. Vicky streicht mit dem Finger über den Namen, das raue Zeitungspapier. Etwas später ist der Artikel aufgequollen und kaum noch lesbar. Noch etwas später liegt er zerknüllt in der Kiste vorm Ofen.
    Es klopft an der Wohnungstür. Elsie hat es tatsächlich geschafft, von Charlottenburg bis nach Tempelhof zu kommen – auf Vickys Einladung zu zwei Stunden Strom zu menschenfreundlichen Zeiten, abends von acht bis zehn. Tagelang hat sie Briketts gespart, um heute die Bude warm zu kriegen. Elsie friert doch so leicht. Die Schürze hat Vicky gegen ein geblümtes Kleid getauscht, das einmal eine Gardine war, aber die Strickjacken müssen die beiden anbehalten. Vicky brüht eine Kanne Ersatzkaffee auf, holt zwei Süßstofftabletten aus der Schachtel mit der Sonderzuteilung vom Dezember. Elsie raschelt geheimnisvoll mit einer Tüte.
    »Rate, was ich mitgebracht habe!« Sicher keine selbst gebackenen pommerschen Kekse, geht es Vicky durch den Kopf. Elsies Mutter ist mitsamt Schwestern und Pommerland abgebrannt. Da hält Elsie ihr von hinten die Augen zu und lässt sie an der offenen Tüte schnuppern. Gott, riecht das gut! »But-ter-kek-se!«, ruft Elsie.
    »Woher kriegt man denn so was?«, will Vicky wissen. »Oder eher gesagt: wofür?«
    Elsie tänzelt durch die Küche und singt: »Lebst du etwa nur auf Karte drei, Baby, oder hast du noch was nebenbei, Baby?Einen Jack, einen Jim aus Übersee, mit Schokolade und Kaffee und einem großen Portemonnaie.« Sie greift nach Vickys Hand und fasst sie um die Taille, lachend stolpern sie in Pantoffeln über die Küchenfliesen. Elsie lässt sich auf den Stuhl fallen und zieht ihre Strickjacke aus. »Das Gute ist, durchs Tanzen spart man Briketts.«
    Vicky geht zum Küchenschrank und holt Lebensmittelkarten aus der Lade. »Und das Schlechte ist, man verbraucht Kalorien.« Sie stellt ein Fläschchen Tusche auf den Tisch und legt zwei Rasiermesser daneben. »An die Arbeit!«
    Immer noch besser, man nimmt die Dinger dazu, als sich damit die Pulsadern aufzuschneiden, hat Elsie gesagt, als sie Vicky das Kartenfälschen beibrachte. Mengenangaben auf Lebensmittelkarten zu fälschen ist hohe Kunst. Schweigend beugen sich die beiden über die Pappkarten. Wenn nicht gerade ein Flugzeug startet oder landet, erfüllt nur das leise Kratzen der Rasiermesser den Raum.
    Auf einmal fragt Elsie in die Stille hinein: »Warum gibst du nicht offiziell an, dass deine Tochter eine Halbjüdin ist? Dass du ihretwegen den arischen Parteigänger geheiratet hast.« Sie legt ihr Messer aus der Hand und schaut auf. »Wie lange willst du noch die Märtyrerin spielen?«
    Vicky beugt sich weiter über die Karten. Zum ersten Mal entdeckt Elsie ein paar Silbersträhnen in den dunklen Locken. »Wer würde mir denn Glauben schenken? Jeder wird sagen, dass ich im Nachhinein den Juden aus dem Hut zaubere, jetzt, wo es mir Vorteile bringen könnte.« Das Messer kratzt auf dem Papier. »Auf dem Amt hab ich vor der Adoption geschworen, dass ich den Vater meines Kindes nicht kenne. Dass er SA-Uniform getragen hat.« Sie lacht bitter. »Das ist alles schwarz auf weiß notiert. Ich hab die Spuren zu gut verwischt. Du bist der einzige Mensch außer Harry und mir, der es weiß, Elsie. Es ist zu spät.«
    Elsie fasst nach Vickys Hand und versucht, sie am Weiterkratzenzu hindern. »Aber es ist nicht zu spät, deiner Tochter die Wahrheit zu sagen! Elsa hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer ihr Vater ist.«
    Vicky schüttelt Elsies Hand ab. »Ach, was weißt denn du! Vielleicht ist es ja die Wahrheit, dass Elsas Vater SA-Uniform getragen hat. Dass ich zu betrunken war, mich an ihn zu erinnern.«
    »Vicky, es ist vorbei. Die Nazis sind weg! Wir sind jetzt frei!«
    »Es ist nicht vorbei«, sagt Vicky und wirft das zerknüllte Zeitungspapier aus der Kiste in den Ofen. Knisternd geht es in Flammen auf. »Für mich wird es niemals vorbei sein.«
    Elsie ist nach Hause gegangen. Die Zeit des Stroms ist vorüber. Vicky sitzt im Dunkeln und schaut aus dem Fenster. Ab und zu erhellen die Scheinwerfer der einfliegenden Dakotas und Skymaster den Himmel, dann legt sich wieder Dunkelheit über die Dächer. Sie gießt sich einen Schnaps ein. Die letzte Zahl auf der Karte ist ihr verrutscht. Ob sie die überhaupt

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