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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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damals gedacht und war erschrocken. Hätte sie ihm so was denn zugetraut? Aber hätte sie Nachbar Steinke zugetraut, dass er die alte Chaja verpfeifen würde, um an ihre schäbigen Möbel zu kommen? Oder sich selbst, dass sie einmal in einer Judenvilla hausen würde? Sie spürt Wilhelms forschenden Blick und schüttelt die Gedanken ab.
    »Hattest du mehr Glück bei deinen … Geschäften?«
    Wilhelm schaut aus dem Fenster, während er erklärt, er brauche eben Westmark, seit die Ostmark in den westlichen Sektoren außer Kurs gesetzt sei. Und davon bekomme man erstaunlich viel für Butter, Kartoffeln und ein paar frische Eier. Vicky läuft das Wasser im Mund zusammen. Es sei ja eigentlich nicht recht, meint Wilhelm, aber er habe einen bestimmten Schraubenschlüssel gebraucht und für Bernhard ein Farbband für die Schreibmaschine. Ach, quatsch nicht, denkt Vicky, schenk mir die Eier, wenn sie dir aufm Gewissen liegen. Ob er denn weiter Arbeit habe, fragt sie. Ja, er arbeite am Wiederaufbau kriegsbeschädigter Häuser in der Rietzestraße mit. Das sei gar nicht weit von ihrer Wohnung, seiner und Bernhards.
    »Immer noch die alte«, will Vicky wissen, »wo wir mit den Kindern Geburtstag gefeiert haben?«
    Wilhelm nickt. Sie schauen sich in die Augen und senken die Köpfe. Sicher hat er jetzt wie sie an Martha gedacht. Martha und Arno. Beide Arnos, den großen und den kleinen. Beide tot. Es ist schwer, über vergangene Zeiten zu reden, ohne über Tote zu sprechen.
    »Möchtest du ein Stück Kuchen?«, fragt Wilhelm. Und ob. Alser die Bestellung aufgibt und nach Schlagsahne fragt, mustert ihn die Kellnerin wie einen Irren.
    »Seinse froh, dat Se Kuchen kriegen. Jibt’s ooch nich alle Tage.« Als sie davongeschlurft ist, sehen sich beide an und lachen.
    »Tja, und wir sind in Tempelhof gelandet«, sagt Vicky, »wo uns jetzt die Rosinenbomber über die Köpfe donnern. Hättest du das gedacht, als du am Tempelhofer Flughafen mitgebaut hast, dass du damit später zur Feindversorgung beitragen würdest?«
    Wilhelm schüttelt den Kopf. »Mein Feind war Hitler. Die ganze Nazibande. Nicht die Amis oder Westberlin.«
    »Nie daran gedacht, in den Westen zu ziehen?«, fragt Vicky. Gleich bereut sie die Frage. Wilhelm schaut wieder ganz ernst. Sorgenfalten zerfurchen seine Stirn. Was sollte er als alter Sozi und Russenüberläufer auch im Westen. Bernhard arbeitet für die Parteizeitung, Charlotte ist im Ostberliner Magistrat und er selbst auch Mitglied der SED. Das hat er ihr ja erzählt, dass er in die Partei eingetreten ist, nicht ohne innere Kämpfe, doch ohne Alternative. Wegen der zahllosen Otto Normalverbrecher, die jetzt im Westen einfach so weitermachen. Ganz zu schweigen von den großen Tieren. Hoffentlich kommt bald der Kuchen. Ihr ist schon ganz flau vor Hunger. Jetzt hält er ihr sicher einen Vortrag über die alten Nazis, die überall im Westen noch am Ruder sind.
    »Ich wollte bei meinen Kindern bleiben«, sagt Wilhelm.
    Endlich kommt der Kuchen. Ein kleines, trockenes Stück auf einem großen Teller. Sie darf jetzt nicht alles hinunterschlingen. Stückchen für Stückchen … Elsa ist gestern nach der Schicht nicht nach Hause gekommen. Die ganze Nacht nicht. Eine schlaflose Nacht. Deshalb die blödsinnige Idee mit den Ohrringen. Dann muss Elsa nicht mehr so viel schuften, hat sie gedacht, und hat keine Ausrede mehr mit ihren Überstunden.
    »Bekomme ich einen Likör«, ruft sie der Kellnerin nach undfügt an Wilhelm gewandt hinzu, »der Kuchen sieht so trocken aus.«
    Wenn nur Elsa nicht mit einem Soldaten ankommt. Womöglich einem Neger wie die Jüngste von Krämers. Sie kippt den Likör hinunter. Schnaps wäre besser gewesen, aber das wollte sie nicht vor Wilhelm. Nicht mal über die Kinder kann man mehr sprechen, ohne auf Blindgänger zu stoßen. Tote und Blindgänger. Ruinen und Einsturzgefahr. Sie schaut Wilhelm an. »Warst du noch mal bei unserem Haus?«
    Wilhelm rührt in der leeren Kaffeetasse. Rührt und rührt. Metall klappert gegen Porzellan. Am liebsten würde sie ihm den Löffel aus der Hand reißen. »Ich gehe oft dorthin«, sagt er endlich. »Einfach davorzustehen und es anzuschauen tut gut. Ein Wunder, dass es fast heil geblieben ist.« Ganz verträumt sagt er das, schaut auf und lächelt sie an. »Nicht wahr?«
    »Umso schlimmer, dass ihr es gestohlen habt.«
    Wilhelm sieht sie fassungslos an. »Wie bitte? Hätte man es den Nachfolgern der NSDAP zurückgeben sollen? Oder dir als Witwe von Helbig? Der

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