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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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hat’s doch erst an die Nazis verschachert!«
    Das Klappern fängt wieder an. Jetzt nimmt sie Wilhelm tatsächlich den Löffel aus der Hand. »Es gehört Grünbergs, schon vergessen? Mein Mann hat’s ihnen gestohlen, und jetzt stehlt ihr es noch einmal. Verstaatlicht, so nennt man das heute bei euch, aber gestohlen bleibt’s doch. Und überhaupt, ›Haus der Einheit‹! So zerschnitten war Berlin noch nie. Grenzen quer durch die Straßen, fremde Armeen, getrennte Währung.« Rote Flecken wandern über Vickys Wangen. »Man bekommt ja schon Ärger, wenn man in eurer S-Bahn eine Westzeitung dabeihat. Selbst wenn nur Kartoffeln drin eingewickelt sind.«
    »Ja, die wir bezuschusst haben und die ihr für ’n Appel und ’n Ei aus unseren Läden wegkauft.« Wilhelm winkt der Kellnerin. »Die Rechnung bitte!«
    »Äpfel und Eier gibt’s bei uns gar nicht mehr dank eurer feinen Blockade! Ohne die Amerikaner wären wir alle schon tot.«
    »Wir ohne die Russen auch.«
    »Wenn das so weitergeht«, sagt Vicky und will aufstehen, »haben wir bald wieder Krieg.«
    »Warte«, sagt Wilhelm und drückt sie sanft auf den Stuhl zurück. »Ich hab noch ein paar Sachen übrig.«
    »Ich hab nichts zum Tauschen.«
    »Es wird andere Zeiten geben.« Wilhelm kramt ein Päckchen aus seiner Tasche hervor. »Außerdem bleibt’s doch in der Familie.«
    Heute Nacht ist Elsa aufgewacht aus einem Traum von ihrem Haus, und plötzlich ist ein Wiedersehen für sie lebenswichtig wie Brot. Gleich morgens macht sie sich auf den Weg. »You are leaving the American Sector«, kann sie inzwischen mühelos lesen, doch der Weg von Amerika nach Russland ist an dieser Stelle unpassierbar. Die Brücke ragt von beiden Seiten wenige Meter über den Kanal, in der Mitte klafft eine Lücke. Soll die Brücke wieder aufgebaut und die Lücke geschlossen, sollen die Überreste gesprengt und die Verbindung gekappt werden? Darüber können sich beide Seiten nicht einigen. So lange muss man ausweichen, auf andere Brücken und Straßen. Oder in die Luft. Elsa traut ihren Augen nicht. Hoch über der Brücke, zwischen den Häuserfronten, balancieren sieben Menschen am Himmel, schwarze Silhouetten vor einer Wolke. Sie halten lange Stangen, wie Verlängerungen ihrer Arme sehen sie aus oder sehr dünne Flügel. Unter ihre Füße zeichnet Elsa im Kopf drei Seile, anders kann es nicht sein, doch allenfalls ahnt man dort ganz feine Linien. Durch die linierte Luft laufen sie über die zerbombte Brücke hinweg und die löchrigen Dächer und Häuser.
    Wenige Straßenzüge weiter erscheint ihr das Ganze wie ein Traumbild. Sie träumt ja viel in letzter Zeit, mit offenen Augen,wie Ingrid sie aufzieht, ein Glück, dass ihre Arme die Luftbrückenarbeit auch kopflos verrichten. Trotzdem muss sie nun an so vieles denken, Ämter, Fragebögen, Formulare. Untersuchung auf Entnazifizierung, Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten. An der nächsten Straßenecke leuchten ihr von einer Hauswand weiße Buchstaben entgegen. »Ami go home« steht dort, das hat sie schon einmal im Vorübergehen gelesen. Doch jetzt ist Ami durchgestrichen, und in ungelenker kyrillischer Schrift steht Ivan darunter. Das muss eine heimliche Nachtaktion gewesen sein, denkt sie, mitten im sowjetischen Sektor. Von ihr aus können sie alle nach Hause gehen, britische und französische Soldaten gleich mit. Nur die Rundfunksprecher sollen bleiben.
    Als sie sich der Kreuzung zur Lothringer Straße nähert, beginnt ihr Herz schneller zu schlagen. Von Weitem sieht das riesige Gebäude, mit seiner Reling um das Obergeschoss und den geschwungenen Seitenflügeln, für sie noch immer aus wie ein Schiff, bereit zur großen Fahrt. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hinter den Mauern des Nikolaifriedhofs, vermodert Horst Wessel in seinem Grab. An den Ästen, die über die Friedhofsmauer hängen, schälen sich hellgrüne Blättchen aus den Knospen. Amseln singen in den Zweigen.
    Elsa lehnt sich in einen Sonnenfleck an der Friedhofsmauer und betrachtet das Haus der Einheit unter der neuen Verkleidung, die roten Banner, die quer über die Fassade laufen. Das Kreditkaufhaus ist gekommen und gegangen, die Zentrale der Hitlerjugend ist gekommen und gegangen, das Zentralkomitee der SED ist gekommen und wird ebenfalls wieder gehen. Lange kann auch dieser Spuk nicht dauern. Für mich, denkt Elsa und schließt die Augen, wird es immer das Jonass bleiben, das Haus von Mama und Elsie, Bernhard und mir.
    Ob es zwischen ihr und Vicky jemals

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