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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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der unbekannte Vater hat ihr einigen Ärger bereitet und der braune Stiefvater erst recht. Um ein Haar wäre alles daran gescheitert, dass sie im BDM war, die Amis mochten es gar nicht, wenn ihre Staatsbürger ehemalige Nazissen ehelichten. Ihr Glück, dass sie dort ohne Funktion war und nur bis fünfzehn. Sicher hat ihr auch das Porträt des befragenden Officers geholfen. Aus lauter Nervosität hatte sie angefangen, während des Interviews das Gesicht ihres Gegenübers auf ein Formular zu kritzeln. Als der Officer sich über die Karikatur beugte, dachte sie schon, nun ist alles aus. Doch er lachte nur und bat sie darum, die Skizze behalten zu dürfen.
    Letzte Woche hat sie Bernhard geschrieben, den sie seit dem verkorksten Weihnachten ’45 nicht mehr gesehen hat. Ob sie ihn zu ihrer Hochzeit einladen dürfe, die, wenn alles gut ginge, Mitte Mai wäre. Heute Morgen ist seine Antwort gekommen, dass er ihr herzlich gratuliere, gerne käme – und ob er Marianne mitbringen dürfe. Hmm, hat sie gedacht, Marianne also. Und ihr Bernhard, der schreibt jetzt wirklich fürs Neue Deutschland.Proletarier aller Länder, vereinigt euch!, geht es Elsa durch den Kopf, während sie sich auf den Weg zurück zur zerbombten Brücke macht.
    Sie wirft einen letzten Blick auf das Haus der Einheit. Na, dann geht er ja vielleicht bald durch dieses Tor hier ein und aus.

Geteilte Welten
    Dunkel poliert sind die Schränke neben den hohen Fenstern. Die mögen dem Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, gefallen haben. Als dieser Raum noch sein Raum war und dieses Haus das höchste Haus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Eine gute Tischlerarbeit, hat er vielleicht hin und wieder gedacht. Solide und haltbar.
    Jetzt beherbergt das Gebäude ein Institut. Hier werden Marxismus und Leninismus erforscht und die Geschichte der Arbeiterbewegung. Geblieben ist das Zimmer, in dem Wilhelm Pieck bis vor Kurzem arbeitete. Geblieben auch das Werkzeug in einer Schublade seines Schreibtisches, Hammer, Zollstock, Bohrer, Zange. Das Rüstzeug eines Mannes, der Tischler war, bevor er Präsident wurde, wie es sich für einen Arbeiterführer gehört. Das Zimmer schon jetzt ein Museum, ein Schrein für den Mann, der inzwischen krank ist. Wer weiß, wie lange er noch lebt.
    Alles steht still, so wie er es verlassen hat. Die holzgetäfelte Decke mit den sternförmig angeordneten Neonleuchten im Halbrund des Zimmers. Die vierflügeligen Fenster, gerahmt von dunklen Vorhängen, die unvermeidlichen Zimmerpflanzen – Monstera und Gummibaum. Der lange Tisch umstellt von gepolsterten Stühlen, auf denen man endlos ausharren und reden kann. Am Kopfende des Tisches der Präsidentenschreibtisch, darauf eine Lampe, zwei Aschenbecher, die Wasserkaraffe, die unabdingbare Schreibtischgarnitur. Auf dem Schrank die Büste eines Arbeiters, muskulös und siegesgewiss.
    In allen anderen Räumen auf allen anderen Etagen wird gearbeitet. Hier wird gehuldigt. Einem Tischler, der Präsident geworden ist. Selbst die Straße trägt seit ein paar Jahren seinen Namen, aus der Lothringer Straße ist die Wilhelm-Pieck-Straße geworden.

    Bernhard heizt ein. Wenn es nach ihm geht, nicht mehr lange. Inzwischen sind in Berlin so viele neue Wohnungen gebaut worden, mit und ohne Wilhelms Zutun, da sollte doch auch für ihn, Karla und Luise eine übrig sein. Hier unten im Keller denkt Bernhard solche Gedanken. Fängt Karla aber oben in der Altbauwohnung an zu jammern, wie kalt und unbequem es sei, mit den hohen Zimmern und undichten Fenstern, gibt er Widerwort. Der Staat könne nicht gleichzeitig allen alle Wünsche erfüllen, sagt er dann, als wäre es zu viel verlangt, eine warme Wohnung mit praktischer Küche und Innentoilette zu haben. Zehn Jahre, nachdem sich dieses Land, das er so verteidigt, gegründet hat. Hier unten im Keller kann man dem Land auch mal böse sein. Bernhard füllt eine Holzkiste mit Briketts und einen Eimer mit Bruch, Krümeln und Kohlenstaub zum Anheizen. Es soll für den ganzen Tag reichen und für morgen noch. Vielleicht schaffen wir es sogar über alle drei Feiertage, denkt er, im Moment spricht ja vieles für schwarze Weihnachten in der Stadt. Ein wenig weiter südlich gibt es klirrenden Frost, als sei das Land noch einmal in der Horizontale geteilt worden.
    Ganz hinten im Keller, neben einem kleinen Regal mit Einweckgläsern von ’57, ’58 und den zuletzt hinzugekommenen mit der säuberlichen Aufschrift ’59, liegt die Bernhardkiste. Karla geht niemals in

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