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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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wieder gut wird? Wenn sie sich an den Abend erinnert in der Küche in Tempelhof, hatsie sofort wieder den Geschmack von POM auf der Zunge, dem farblosen Brei aus Kartoffelpulver, den Vicky gekocht hat. Der einem zuerst den Gaumen verkleistert, dann Kehle und Hals beim Schlucken und Stunden später als schwerer Klumpen den Magen. Noch in der Erinnerung wird ihr ganz übel. Sie geht ein paar Schritte um die Ecke und lässt sich neben dem Friedhofseingang auf eine Bank fallen, schräg gegenüber vom Haus der Einheit.
    Sehr langsam ist sie an dem Abend nach Hause gegangen, zögerlicher mit jedem Schritt, der sie dem unvermeidlichen Gespräch näher brachte. Sie traf ihre Mutter am Küchentisch an, über eine Zeitung gebeugt. Statt einer Begrüßung las sie laut vor, was es am nächsten Tag auf welchen Abschnitt der Karten geben würde. »475 Gramm Weißbrot auf Abschnitt 500-W der Brotkarte, in Verbindung mit Sonderabschnitt B der Fleischkarte. Ein Pfund Salzgemüse und 62,5 Gramm Trockengemüse auf Abschnitt K-2.«
    »Mama, ich möchte mit dir reden.«
    »62,5 Gramm Trockengemüse extra für Diabetiker und Blutspender … Hmm, ob es lohnt, sich dafür die letzten Eisenvorräte abzapfen zu lassen?«
    »Ich habe dir etwas zu sagen.«
    »Wie hat es in der Rundfunkansprache an die Berliner geheißen? Wir leben jetzt alle von moralischen Kalorien.« Vicky lachte. »Zu schade, dass man die nicht gegen unmoralische zum Essen tauschen kann, nicht?«
    »Ich möchte heiraten und brauche deine Einwilligung.«
    »Du solltest mehr essen und weniger rauchen. Hier, iss.« Sie stellte einen Teller voll POM vor sie hin. »Und weniger arbeiten. Schau mal in den Spiegel, wie ein Gespenst siehst du aus! Ich hab noch Reserven, weißt du, ich kann noch was lockermachen. Morgen bleibst du zu Hause!«
    »Hast du gehört, was ich gesagt habe, Mama?«
    Motorengedröhn. Landende Maschinen, startende Maschinen. Löffel voller Kartoffelbrei. Noch mehr blubbernder Brei im Topf auf dem Herd. Und dann, nach so langem Schweigen, dass sie mit keiner Antwort mehr gerechnet hat, schrie Vicky sie an: »Niemals bekommst du von mir eine Unterschrift!«
    »Dann kriege ich eben ein uneheliches Balg wie du!« Die Worte waren raus. Starr saß sie da und wartete auf eine Antwort. Eine schallende Ohrfeige. Türenschlagen. Einen Weinkrampf.
    Doch Vicky sprach nur ganz leise, wie zu sich selbst. »Du solltest es doch besser machen. Besser als ich.«
    »Mama!« Sie griff nach ihrer Hand.
    Vicky entzog sie ihr, als ob sie sich verbrannt hätte. »Ich war wenigstens schon großjährig!«
    »Und ich weiß wenigstens, wer der Vater ist! Mich will der Vater meines Kindes sogar heiraten! Und du wirst das nicht verhindern.« Nun war sie es, die türenschlagend aus der Küche und ins Schlafzimmer stürzte.
    Erst Stunden später, sie musste erschöpft vom Weinen eingeschlafen sein, kam Vicky hereingeschlichen und legte sich, ohne Licht zu machen, in ihr Bett an der gegenüberliegenden Wand. Sag etwas, hat sie im Stillen gefleht, irgendetwas, damit es zwischen uns wieder gut wird. Du bist doch meine Familie. Ich hab doch nur dich. Leises Atmen kam von der anderen Seite. Regelmäßiges Atmen. Das kann doch nicht wahr sein, hat sie gedacht, da legt sie sich einfach hin und schläft. Als ob nichts gewesen wäre. Das halte ich nicht mehr aus. Das mache ich nicht mehr mit.
    Laut sagte sie in die Stille hinein: »Sag mir, wer mein Vater ist!« Der Satz fiel in die Dunkelheit zwischen ihren Betten wie in einen Graben. Noch einmal erhob sie die Stimme. Wenn die Wahrheit nicht half, dann vielleicht die Lüge. »Mein Kind wirdübrigens kariert. Ein Negerbaby.« Da wurde auf der anderen Seite des Grabens die Luft angehalten. Plötzlich war da diese Idee. Ein Gedanke, der ihr noch nie zuvor gekommen war. »Und ich könnte wetten, dass mein Vater Jude war!«
    Es hat keinen Sinn, hier auf eine Antwort zu warten, den Friedhof im Rücken und das Haus ihrer Geburt gegenüber. Elsa steht auf und lässt die Friedhofsmauer hinter sich und die flatternden roten Fahnen auf dem Dach des Hauses der Einheit. Es gibt noch so viel zu erledigen. Stephen und sie wollen so bald wie möglich heiraten. Bevor ihr Bauch rund wird. Doch jeder ausgefüllte Fragebogen scheint einen weiteren nach sich zu ziehen. Über die Untersuchungen auf Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten macht sie sich keine Sorgen, auch das polizeiliche Führungszeugnis und die Einverständniserklärung ihrer Mutter liegen nun vor. Aber

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