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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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bläst Rauch hinaus. Vergiss es, sagt sie noch einmal und wischt sich so heftig die Tränen von der Wange, dass sie mit dem Fingernagel einen Kratzer hinterlässt. Dass deine Tochter statt bei dir lieber in einer Kommune lebt, heißt doch nicht, dass sie unter die Räder kommen muss. Dass sie vor dir geflüchtet ist. Dass sie dich nicht mehr liebt. Sie schließt das Fenster und zieht die Jalousien herunter. Es wird ein heißer Tag werden.
    Als sie an Jonas’ Zimmer vorbeikommt, hört sie lautes Schnarchen. Am liebsten würde sie ins Zimmer stürmen, ihn aus dem Bett zerren. Hilf mir! Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit dem Einpacken und Aussortieren. Wie sollen vier ZimmerGegenstände, vier Zimmer Erinnerungen, vier Zimmer Leben zukünftig in eines passen? Aber das sollen sie ja gar nicht. Jonas muss seine Koffer für die USA packen und ein paar Kartons einlagern mit dem, was er behalten will – Stapel von Platten und seine Anlage. »Der Rest kann weg«, hat er gesagt. Als sie Stephanie vor ein paar Wochen mitgeteilt hat, dass sie bald in eine kleine Wohnung für sich allein ziehen würde, und sie bat, vorher ihre Sachen abzuholen, bekam sie die gleiche Antwort: »Der Rest kann weg.« In Stephs Fall mit dem Zusatz: »Wir brauchen hier keinen Konsumterror.« Sie bringt es nicht fertig, Stephanies Kleider und Bücher und von übermäßiger Kinderliebe räudige Teddybären in den Müll zu werfen. Nun stehen sie noch immer im Weg.
    Bin ich auch so ein Rest, der nun wegkann, fragt sich Elsa vor dem Küchenbüfett, vor offenen Türen und Schubladen. Wie viele Teller und Tassen, Gabeln und Löffel braucht eine Person? Von jedem eins, wie wär’s damit? Aber wer weiß, vielleicht würde sie eines Tages Besuch bekommen, wieder einem menschlichen Wesen am Tisch gegenübersitzen? Sie könnte auch einen Hund anschaffen. Oder einen Papagei. Jetzt übertreib’s mal nicht, Elsa-Darling – das hat Stephen oft zu ihr gesagt, und wahrscheinlich hat sie es gestern zum letzten Mal im Leben gehört.
    Ein paar Stunden später stehen die Kartons noch immer halb leer an den Wänden und im Flur. Elsa kniet im Schlafzimmer auf dem Teppichboden, umgeben von Fotos und Briefen. Ein Hochzeitsalbum, in das sie sich jetzt nicht vertiefen wird, zwei Alben, auf denen »Stephanie« und »Jonas« steht, ein rotes, ein blaues. In beiden vorne eingeklebt eine seidenweiche Locke, eine hellbraune, eine blonde. Sie klappt die Alben zu. Dann sind da die Schuhkartons mit Bildern. Bilder, die sie alle selbst aufgenommen, aber niemals sortiert hat. Stephen mit Baskenmütze auf dem RIAS-Wagen. Ingrid nach der Schicht in der Flughafenhalle, den Kopf in die Hände gestützt. Ingrid, die damals schonTuberkulose hatte und bald darauf tot war. Vicky und Elsie in Verkäuferinnentracht vor dem neu eröffneten KaDeWe. Elsie hat Vicky die Arme um die Schultern gelegt, beide strahlen. Sie muss Elsie morgen im Krankenhaus besuchen. Wann wird sie operiert? Meine Güte, es gibt wirklich Schlimmeres als eine Wohnungsauflösung. Familienauflösung. Elsie weiß nicht mal, ob sie diesen Sommer überlebt.
    Was haben wir da? Vickys Hochzeit mit Leo – wie kommt das dazwischen, das war doch viel später. Hier das Haus der Einheit im roten Fahnenschmuck, vorsichtig aus dem Hinterhalt des Nikolaifriedhofs fotografiert, durch das Friedhofstor. Schließlich wollte sie nicht als Spionin hinter Gittern landen. Ob es vor ’53 aufgenommen ist, bevor die wütenden Arbeiter gegen die Parteizentrale anstürmten? Für die war das Haus ihrer Kindheit zum Bollwerk einer feindlichen Macht geworden. Dass sie recht damit hatten, tat ihr umso mehr weh. Auf dem nächsten Foto ein Hinterhof, in dem eine alte Frau zwischen Mülltonnen in der Sonne sitzt und schläft, und dort ein Brückengeländer, zu dem ihr die Brücke fehlt. Nichts ist datiert, nichts beschriftet. Sie hat ja all diese Bilder zum Privatvergnügen gemacht, oder nicht? Als Lehrling im Fotoatelier, gleich nach dem Krieg, hatte sie davon geträumt, Geld und Anerkennung damit zu verdienen wie ihr Chef. Er hatte sie sogar ermutigt, zuerst. Und dann entlassen, als das Geld nicht mal für eine Assistentin reichte. Bald darauf hat Stephen vom RIAS-Wagen dazwischengefunkt … Elsa betrachtet die Fotos und seufzt. Dieses Durcheinander! Wahllos greift sie ein Bild heraus. Ein menschenleeres Schwarz-Weiß-Foto. Ein Karteikasten mit Karteikarten auf einer Linoleumunterlage, daneben, halb abgeschnitten, eine Schreibmaschine. Elsa will

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