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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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das Bild wegwerfen, da bleibt ihr Blick an den Buchstaben hängen – kyrillische Buchstaben! Ihr wird glühend heiß.
    Die Bibliothek im Institut. 19. Juni 1959, kurz nach ihrem dreißigsten Geburtstag. Uhrzeit zwischen sechs und halb sieben.Jedenfalls vorher. Heimlich aufgenommen, als Bernhard nicht hinsah. Sie hat seine Schritte gehört, das Bild ist verwackelt. Schnell die Kamera in die Handtasche gestopft und sie dort für die nächsten Stunden vergessen. Das einzige Bild, der einzige Zeuge. Alles andere hat sie auf dem Film, der für immer in ihrem Kopf sein wird. Vor Gericht hätte das Foto nicht als Beweisstück eines Ehebruchs getaugt. Stephen hat niemals davon erfahren. Es war auch kein Ehebruch, im Sommer ’59, in Bernhards und ihrem Haus. Es war … etwas zwischen Bernhard und ihr. Gut, dass sie das keinem Scheidungsrichter erklären musste!
    Zuerst hat es uns getrennt, denkt Elsa, befangen gemacht. Vielleicht, solange die Frage in der Luft schwebte, ob wir uns nicht, trotz Partnern, Kindern, geteilten Ansichten in Bezug auf das bessere Deutschland, zusammentun sollten, um das richtige Leben zu leben. Darüber haben sie niemals gesprochen, aber sie hat es damals gespürt, nicht allein zu sein mit solchen Fragen, nachts, wenn sie neben ihrem schlafenden Mann lag, aufgeweckt vom Mond, der durch einen Spalt im Vorhang schien, der nicht fest genug zugezogen war. Sie stapelt die Fotos zurück in die Kartons, schließt die Deckel und streift Gummibänder darüber. Irgendwann war die Befangenheit gewichen, Bernhard und sie hatten die unausgesprochene Frage beantwortet, er und sie für sich alleine. Die Freundschaft war wieder da, sogar das alte Gefühl, Geschwister zu sein, tiefer als zuvor. Und genau dann haben sie die verdammte Mauer gebaut. Mitten durch die Stadt und mitten durch unsere Leben, die seitdem wie auf anderen Planeten stattfinden.
    Der Mond ist weiß, von der Erde aus gesehen, und in einer Sommernacht wie dieser rötlich gelb. Doch welche Farbe hat die Erde, vom Mond aus betrachtet? Und wie sieht der Mond auf dem Mond aus? Diese Fragen haben Elsa hierher getrieben, in eine Traube von Menschen vor einem Schaufenster des KaDeWe,in dem große Bildschirme stehen – Farbfernseher. Alle wollen möglichst nah und live dabei sein, fünfhundert Millionen weltweit, hieß es in den Nachrichten, verfolgen das Spektakel vor den Fernsehern. Obwohl man auf den flimmerigen Bildern nicht allzu viel erkennen kann, harren die meisten seit Stunden aus, um den Augenblick zu erleben, in dem die Menschheit den Mond erobert. Es ist Montagmorgen, wird schon bald wieder hell, die Büros werden am Vormittag leer sein. Noch immer weht eine laue Luft. Elsas Sommerkleid, weiß mit fliederfarbenen Blumen und einem weit schwingenden Rock, fällt auf zwischen engen Miniröcken und geometrischen Mustern. Zehn Jahre hat sie es nicht getragen, zehn Jahre hing es ganz hinten in ihrem Schrank. Erst heute kam es ihr wieder in den Sinn, das Kleid, als ihr das Foto mit Karteikasten und Schreibmaschine in die Hände fiel.
    Blau. Die Erde ist vom Weltall gesehen blau. Doch das Meer der Ruhe, in dem Apollo 11 gelandet ist, sieht braun und grau, zerklüftet und staubig aus. In einem Meer der Ruhe zu landen stellt Elsa sich schön vor. Sie denkt an die gestapelten Kisten in ihrer Wohnung, die ausgeräumten Schränke, die zerstreute Familie. Hier steht sie allein inmitten von Fremden. Vicky und Leo wollten zu Hause bleiben, Schwarz-Weiß tut es auch, fanden sie. Ob Elsie jetzt im Fernsehraum der Klinik sitzt und mit anderen Patienten, deren Tage auf Erden gezählt sind, den Männern im Mond zusieht? Vielleicht schläft sie auch den traumlosen Schlaf der Schmerzmittel. Jonas feiert Abschied mit seinen Freunden, und Stephanie – nun, Stephanie hat gesagt, sie würde diese Hysterie bestimmt nicht mitmachen, es sei doch reine Propaganda, um von Vietnam abzulenken.
    Auf einmal kommt Bewegung in die Menge, die noch näher an die Schaufenster drängt. Am 21. Juli um 3 Uhr 56 mitteleuropäischer Zeit betritt Neil Armstrong von der Leiter der Raumfähre aus als erster Mensch den Mond. Elsa schaut indie Gesichter der Umstehenden. Alle Augen sind gebannt auf die Bildschirme gerichtet, auf Mattscheiben hinter Schaufensterscheiben. Sie tritt aus der Menge heraus, die Lücke schließt sich augenblicklich. Ein paar Meter vor den Schaulustigen, neben dem Schaufenster, holt Elsa die Kamera aus der Tasche. Sie fotografiert die dicht gedrängten Körper, die

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