Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
Vom Netzwerk:
sind, wie sie sie im Kopf hat seit jener Nacht – ja, was dann? Der Einsendeschluss rückt jeden Tag näher.
    Morgen kommt das Paar, das ihr den viel zu großen Kleiderschrank abkauft. Ganz hinten, wo das weiße Kleid mit den fliederfarbenen Blumen versteckt war, hängen andere lange nicht mehr getragene Kleider. Brave Blusen und Röcke wandern in den Altkleidersack. Die Jeans kommt in den Koffer zu den engen Pullis und T-Shirts, alles praktische Sachen, die man nicht bügeln muss. Der neue Minirock kommt auch mit. Als sie ihn das erste Mal getragen hat, bei einem ihrer seltenen Besuche in Stephanies WG, hat ihre Tochter sie angesehen, als wären Miniröcke an Frauen über dreißig im Allgemeinen und Müttern im Besonderen unpassend und peinlich. Aber ihre WG-Genossin fand ihn steil und hat ihr geraten, dazu Plateaustiefel zu tragen. Hohe Absätze, im Ernst, und das bei ihrer Größe? Stephen wollte nie, dass sie welche trug, weil sie ihn dann um einige Zentimeter überragte. Doch das Mädchen hat recht gehabt. Als sie mit Minirock und Plateaustiefeln nach Hause stiefelte, wurde ihr seit langer Zeit wieder einmal hinterhergepfiffen. Zu Hause angekommen, pfiff sie selbst.
    Sie nimmt mehrere Bügel hinten aus dem Schrank, da scheint zwischen weißen und hellblauen Blusen etwas Gestreiftes auf und etwas Kariertes. Mit der freien Hand streicht sie über das Gestreifte und steckt die Nase in das Karierte. Saugt die Luft ein, hält die Luft an und atmet noch mal ein. Riecht man noch etwas von einem Mann nach zwei oder vier oder sieben Jahren? Eine Sekunde schweben Stephens Hemden über dem Altkleidersack. Dann legt sie sie ganz oben in den Koffer, neben das weiße Kleid mit den fliederfarbenen Blumen.
    Vicky schaut auf die Armbanduhr, Richtung Rolltreppe und wieder auf die Uhr. Sie macht heute schon mittags Feierabend im KaDeWe. Elsa hat versprochen, sie abzuholen und mit ihrins Krankenhaus zu Elsie zu fahren. Aber ihre Tochter ist noch immer nicht in Sicht. Einige Kunden schleichen zwischen den Kleiderständern herum, ohne die Kleider zu beachten, sie hat den Verdacht, dass die Herrschaften vor allem wegen der Klimaanlage hier sind. Wunderbar kühl ist es in den hohen Kaufhaushallen, während sich in den Straßen die Hitze staut. Seit Tagen sehnt man sich nach einem Gewitter. Aufgeregt kommt eine Kollegin aus der Herrenkonfektion auf Vicky zugelaufen.
    »Schon wieder eine Demonstration! Der Ku’damm ist voll mit Polizei, hab ich eben gehört.« Sie fährt sich durch die dauergewellten Haare. »Oh Gott, hoffentlich werfen sie uns nicht wieder die Scheiben ein!«
    »Worum geht’s denn diesmal?«, fragt Vicky, während sich in ihrem Inneren Unruhe ausbreitet. Wenn Elsa mitten auf dem Ku’damm zwischen die Fronten geraten ist!
    »Ach, diese Deserteure aus Westdeutschland, die in Moabit sitzen«, sagt die Verkäuferin. »Sollen sie die doch zurückbringen, wo sie hingehören! Oder gleich nach drüben. Jeder meint, er kann nach Westberlin kommen und hier auf Staatskosten gammeln.« Wieder rauft sich die Kollegin die Haare. Fehlt nur noch, dass sie auf den perlmuttfarbenen Fingernägeln kaut, meine Güte. Dabei läuft doch nicht ihre Tochter draußen in dem Schlamassel herum.
    Im engen Büro sitzt Vicky nach vorn gebeugt auf der Stuhlkante, das Ohr nah am Radio. Sie wagt es nicht, den Sender laut zu stellen. Die Rundfunknachrichten sind nicht gerade beruhigend. Mehr als zweitausend Demonstranten vor dem Moabiter Gefängnis, ein Großteil von ihnen ist spontan Richtung Kurfürstendamm gezogen. Hunderte von Polizisten zwischen Ku’damm und Wittenbergplatz postiert, berittene Staffeln, Wasserwerfer. Schwere Ausschreitungen werden erwartet … Vicky krampft die Hände im Schoß zusammen. Elsa wird doch vernünftig sein und sich fernhalten? Und unbeteiligten Passantenpassiert nichts, oder? Obwohl, der Ohnesorg soll ja auch … und Elsie, die neulich auf dem Heimweg vom Kaufhaus in Tränengas geraten ist. Stephanie, die schon mehrmals ärztlich versorgt werden musste. Aber die war auch nicht unbeteiligt, lief immer vorneweg bei diesen Anti-Vietnamkriegs-Demos und Anti-Springer-Demos und was nicht alles. Und das, obwohl ihr Vater ein Ami ist und ihre Großmutter eine geborene Springer. Na, den Namen ist sie zum Glück los. Dann erstarrt das Lächeln auf Vickys Lippen. Was, wenn Stephanie auch heute in vorderster Front mitläuft? Diesmal nicht mit einem blauen Auge davonkommt? Wasserwerfer, Reiterstaffeln … Vicky gräbt die

Weitere Kostenlose Bücher