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Torstraße 1

Torstraße 1

Titel: Torstraße 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sybil Volks
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schüttelt den Kopf und reicht die Flugblätter an Steph weiter. »Ich fliege morgen. Deshalb wollte ich ja …«
    »Was? Wohin denn?«, will Ruby wissen, die im Schneidersitz neben Steph Platz genommen und sich ein Beedie zwischen die Zähne geschoben hat. Jonas steigt der süßliche Rauch in die Nase, vermischt mit Patchouliduft.
    »In die Staaten«, sagt er, »da mach ich die zwölfte Klasse.«
    Ruby schaut entgeistert zu ihm auf. »In die Staaten? Du meinst bei den Yankees? Den Imperialisten?«
    Alle Blicke richten sich auf Jonas. »Genau da. Mein Dad ist zufällig auch ein Yankee. Bei dem werde ich wohnen.«
    »Moment mal, dein Dad, sagst du?« Bobby wirft einen Blickauf Steph. »Ich denk, ihr seid Geschwister.« Stephanie läuft rot an und nickt. Bobby schlägt sich an die Stirn und zeigt mit dem Finger auf sie. »Dein Vater ein Ami? Ich glaub’s ja nicht.«
    Jonas macht einen Schritt Richtung Flur. »Ich muss jetzt los. Muss noch packen. Bringst du mich zur Tür?«
    Stephanie rappelt sich auf. »Klar.« Dann sagt sie in die Runde: »Jonas fährt nach Woodstock.«
    »Was für ’n Stock?«, fragt Bobby.
    Ruby springt auf und wirft ein Glas Tee um. »Wow, nimmst du mich mit!?«
    »Du bist nun alles, was mir von meinem Sohn geblieben ist.« Elsa hält Grace eine Möhre entgegen. Grace schnuppert daran und hoppelt über die Küchenfliesen davon. Verwöhntes Biest, diese schneeweiße Grace. Saß eines Morgens im Flur und knabberte an ihren Sandalen. Wirklich ein sinniges Abschiedsgeschenk von Jonas’ Freunden, so kurz vor seinem Abflug und ihrem Umzug. Wussten die denn nicht, dass er ›White Rabbit‹ für überschätzt hielt? »Aber genial ist der Song trotzdem«, hat Jonas argumentiert, er habe ja nur gemeint, dass es nicht ihr bester sei! Ganz genau, und er könne das Tier gerne mitsamt all seinen genialen Songs und Alben einlagern, hat sie erwidert. Oder es quer über den Atlantik mit zu seinem genialen Vater nehmen. Hier bleibe es jedenfalls unter keinen Umständen.
    Elsa seufzt und fegt Kaninchenköddel zusammen, die sie vor der Spüle entdeckt hat. »Nenn sie Grace«, hat Jonas zum Abschied am Flughafen gesagt. »Nach der Sängerin. Die ist zum Niederknien, Mama, hör dir nur mal …« Keine Ahnung, welches Lied sie sich unbedingt anhören sollte. Ihr wurde nur in dem Moment klar, dass sie nie mehr beim Nachhausekommen bereits auf der Straße mit einem Höllenlärm begrüßt werden würde. Nie mehr nachts die Polizei auf der Matte, nie mehr muffige Turnschuhe im Flur und lange blonde Haare, die denAbfluss verstopfen. Oh Gott, jetzt geht das schon wieder los. Sie fischt ein durchweichtes Tempo aus der Hosentasche, das weiße Flusen in ihrem Gesicht hinterlässt.
    Jonas ist weg, Stephanie ist weg. Die kleine Grace kann den Platz der beiden nicht ausfüllen. Wie oft war es ihr zu eng in der Wohnung, als sie noch zu viert darin wohnten. Wie oft hat sie sich, umstellt von Schränken, Regalen, Bücherstapeln und Plattensammlungen, nach mehr Raum gesehnt, Freiraum, der nicht ausgefüllt und nützlich sein musste, frei von Ebbe und Flut der Hinterlassenschaften einer vierköpfigen Familie. Nun hat sie so viel Freiraum, den sie füllen kann, und manchmal auch nicht. Im fensterlosen Bad, wo vor Kurzem noch Jonas’ ungewaschene Wäsche herumflog, die verschiedenen Sorten Männerdeo, die er neuerdings ausprobierte, vor einer Weile Stephanies Kajalstifte und Hennapackungen, vor längerer Zeit Stephens Rasierwasser und -pinsel, hat sie eine Ecke ganz für sich alleine eingerichtet. Anstelle von Deos, Henna und Rasierzeug lagern in dieser dunklen Ecke Thermometer, Pipette, Eieruhr, Trichter, Plastikschüsseln und Chemikalienflaschen. Im Augenblick hängen dort, an einer aufgespannten Leine, Filme zum Trocknen.
    Auf den Bildern steigt Stephen als noch verheirateter Mann vor der Verhandlung aus dem Taxi und kehrt ihr als soeben geschiedener Mann den Rücken. Dann Jonas vor dem Abflug, mit einem Gesicht, als ob er gleichzeitig lachte und weinte. Die Wohnung im Zustand fortschreitender Auflösung. All diese Augenblicke aufgereiht an einer Plastikleine.
    Was nicht dort hängt, noch immer gut verschlossen in der Filmdose schlummert, sind die Bilder der hypnotisierten Gesichter, die alle in eine Richtung schauen, und des einen Gesichts, das allein nach oben schaut, beschienen vom dottergelben Mond. Sie schafft es einfach nicht, sie aus dem Filmdosenschlaf zu wecken. Wenn diese Bilder nichts geworden sind, nicht sogeworden

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