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Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hornfeck
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nicht hin.«
    Halbdrache   – mit diesem Wort konnte Inge wesentlich mehr anfangen als mit Begriffen wie »arisch« oder »jüdisch«. Da wusste man doch gleich, woran man war. »Und ich bin ein Ganzdrache«, entgegnete sie stolz. »Im Jahr des Drachen geboren.«
    Jetzt musste auch Sanmao grinsen. Ein Ganzdrache aus Deutschland. Blitzschnell rechnete er nach. Dann war die Kleine also zehn, höchstens elf. Auf den Mund gefallen war sie jedenfalls nicht. Schon löcherte sie ihn mit weiteren Fragen.
    »Und wie spricht man in deiner Schule?«
    »Im Unterricht Englisch. Untereinander meistens auch, weil dort Kinder mit vielen verschiedenen Muttersprachen hingehen.«
    »Gibt’s auch Chinesisch-Unterricht?«
    »Klar. Ein paar Stunden pro Woche, aber da geh ich nicht hin. Bin ja zweisprachig, durch meine Mutter.«
    »Und was für ein Chinesisch sprichst du?« Inge wusste inzwischen, dass es da Unterschiede gab.
    »Mit meiner Mutter Schanghai-Dialekt, aber Hochchinesisch kann ich natürlich auch.«
    Natürlich. Inge blieb ihm die Antwort darauf nicht schuldig: »
Wǒ yě huì shuō zhōngwén

    Jetzt fiel Sanmao wirklich die Kinnlade runter. Ein Ganzdrache aus Deutschland, der Chinesisch sprach. Dieser Blondschopf hatte es wirklich faustdick hinter den zierlichen Ohren.
    Mittlerweile hatten die Väter ihre Unterredung beendet und schienen zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Jedenfalls schüttelten sie sich freundlich die Hände. Inge hörte, wie Herr Fiedler »Bis morgen also« sagte. Dann sah er sie mit gespieltem Entsetzen an: »Und das Eclair? Hat es Ihnen nicht geschmeckt, junges Fräulein? Ich bin erschüttert.«
    »Äh, doch«, druckste Inge mit einem verlegenen Blick auf das angebissene Teilchen. Sie konnte ja schlecht erklären, dass ihr sonst so unersättlicher Appetit auf Süßes diesmal von anderen Attraktionen verdrängt worden war. »Vielleicht könnten wir es einpacken«, schlug sie vor.
    Auf dem Heimweg in der Rikscha öffnete Inge die Tüte, die ihr der nette Kellner beim Abschied überreicht hatte, und fand darin gleich drei Eclairs   – keines davon angebissen. Inge hoffte inständig, dass sich ihr neues Heim in der Nähe von Sanmao und den Eclairs befinden würde.

Frühlingserwachen und Musterhafte Person
    Februar 1939   – Jahr des Tigers
    虎
    Inges Wunsch ging in Erfüllung: Ihr Vater bekam die Stelle in Herrn Fiedlers Backstube, und die Finkelsteins bezogen zwei Dachkämmerchen im Hinterhaus des »Café Federal«. Also wurde der Koffertisch wieder in seine Einzelteile zerlegt, und die waren rasch gepackt.
    Inge war überglücklich, als sie in ihrem neuen Domizil anlangten, doch die Mutter äußerte Bedenken.
    »Also, das ist aber ziemlich primitiv hier, Willi. Wasserhahn auf dem Flur, und zur Toilette müssen wir über den Hof«, klagte sie.
    »Immerhin gibt es eine«, hielt ihr Mann dagegen. »Ich habe mir sagen lassen, dass das in Schanghai keineswegs selbstverständlich ist.«
    Inge tat der Vater leid. Jetzt, wo er eine Stelle und ein Heim für seine Familie gefunden hatte und sein Selbstvertrauen allmählich wieder zurückkehrte, fing die Mutter mit ihrem Hygienefimmel an.
    »Glaubst du vielleicht, mir fällt es leicht, in einer fremden Backstube zu arbeiten, nachdem ich jahrelang meinen eigenen Betrieb geführt und meine Gäste bedient habe? Du weißt genau, wie gern ich meiner Frau etwas Besseres bieten würde, aber jetzt muss ichdich bitten, vernünftig zu sein, Marianne. Wir haben ein Dach über dem Kopf und eine Tür, die wir hinter uns zumachen können. Das ist wesentlich mehr als gestern noch.«
    Für den schweigsamen Herrn Finkelstein war das ein ungewöhnlich langer Monolog. Das schien auch seiner Frau aufzufallen, sie war es nicht gewohnt, dass er ein Machtwort sprach.
    »Wir werden sehen«, erwiderte sie vage.
    Für Inge war die Welt fast schon wieder in Ordnung: Morgens erwachte sie mit dem süßen Duft von Gebäck in der Nase, und wenn sie aufstand, war ihr Vater längst in der Backstube. Und da war Sanmao. Inge hatte sich fest vorgenommen, den Vierzehnjährigen aus dem Vorderhaus zu ihrem Führer und Vermittler in dieser neuen Welt zu machen. Er wusste zwar noch nichts davon, aber sie würde ihm das schon klarmachen.
    Inge ihrerseits wusste jetzt, wem Sanmao seine Mandelaugen verdankte. Xiaochun Fiedler war ein zierliches, energiegeladenes Persönchen, sie lachte gern und nahm das Leben von der praktischen Seite. Ihr Name bedeutete Frühlingserwachen, und tatsächlich hatte

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