Torte mit Staebchen
chinesischer Name.«
Die zierlichen Bildzeichen gefielen Inge sehr viel besser als die moralische Verpflichtung, die darin enthalten war.
»Das musst du nicht so ernst nehmen«, sagte Sanmao, als sie draußen auf der Treppe waren, und knuffte sie aufmunternd in die Seite. Er hatte bemerkt, wie kleinlaut Inge auf einmal war. »Das ist ein sehr chinesischer Name, den kannst du in der Schule oder zuoffiziellen Anlässen verwenden. Aber für zu Hause brauchst du einen Spitznamen, und den gebe ich dir. Ich hab gehört, dass deine Eltern manchmal Entlein zu dir sagen. Ente heißt
yāzi
, aber die Silbe
yā
kann in der Verbindung
yātou
auch ›kleines Mädchen‹ bedeuten. Eine mit Zöpfen, so wie du. Wir nennen dich Yatou, was je nach Schreibung ›Entenkopf‹ oder ›Kleine‹ heißt.«
Inge lächelte ihn dankbar an. Ein Entenkopf mit Zöpfen, damit konnte sie leben.
***
»Sag mal, Sanmao, was ist eigentlich ein
joss house?
Als uns der Rikschafahrer neulich herbrachte, hat er gesagt, eure Adresse sei gleich beim
joss house
.« Inge hatte sich das Pidgin-Wort gemerkt und ständig gerätselt, was es wohl bedeutete.
»Ach, der meinte den Tempel, der weiter unten an der Bubbling Well Road liegt, den Jing’an-Tempel.«
»Gehst du mal mit mir hin?« Den chinesischen Göttern, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft wohnten, wollte Inge gern einen Besuch abstatten. Die waren es ja wohl gewesen, die ihren Wunsch erhört und gnädig erfüllt hatten.
»Können wir gleich machen. Ich hab heute Nachmittag keine Schule.«
»Au ja!« Inge machte einen kleinen Luftsprung, der Sanmao einen Schritt zurückweichen ließ. Solche Gefühlsausbrüche war er nicht gewöhnt.
Inge tat nichts lieber, als die Gegend zu erkunden,am liebsten natürlich zusammen mit Sanmao. Insgeheim hatte sie sich zum »furchtlosen Erkunder« der Familie erklärt. Diese Rolle fiel eindeutig ihr zu, denn die Eltern waren in dieser Hinsicht völlig unbrauchbar, und einer musste schließlich herausfinden, wo sie jetzt wohnten. Während der Vater von morgens bis abends in der Backstube stand, verließ die Mutter nur selten den geschützten Raum des Hinterhauses. Meist verbrachte sie die Nachmittage in ihren Pelzmantel gewickelt auf dem Sofa, das Inge nachts als Bett diente. Die beiden Dachstuben waren schlecht isoliert und nur mit einem Kanonenöfchen zu heizen. Die Kohlebriketts dafür musste man selber »backen«. Inges Erwartungen an ein subtropisch mildes Klima waren bislang enttäuscht worden; der Februar in Schanghai war empfindlich kalt.
Für ihren Ausflug mit Sanmao zog sie sich den Wintermantel über, dazu Mütze, Schal und Handschuhe genau wie zum Schlittschuhlaufen in den Havelauen. Dann hüpfte sie die Treppe des Hinterhauses hinunter, winkte kurz durchs Fenster in die Backstube, wo ihr Vater gerade Nusshörnchen füllte, und pfiff in der Toreinfahrt einmal schrill durch die Finger. Das war ihr mit Sanmao vereinbartes Geheimsignal. Inge war sehr stolz gewesen, ihrem großen Beschützer zur Abwechslung auch mal was beibringen zu können. Es hatte ein bisschen gedauert, bis er den Kniff raushatte, aber mittlerweile pfiff er genauso gellend durch zwei Finger wie sie.
Die beiden verließen das Haus durch die Toreinfahrt, wandten sich nach links und folgten der BubblingWell Road mit ihren Trambahnschienen Richtung Westen. Je weiter man sich vom Fluss entfernte, desto ruhiger wurde es. Die Häuser waren hier nicht mehr so hoch und imposant wie in der Innenstadt, und die Straßen wurden von Alleebäumen überwölbt. Die hatten jetzt zwar keine Blätter, aber Inge erkannte an der fleckigen Rinde und den stacheligen Samenbällchen, die wie Christbaumkugeln in den Zweigen hingen, dass es Platanen waren. Auf der linken Straßenseite lag das Hotel »Burlington«. Daran schloss sich eine hohe Mauer an, hinter der sich ein riesiger verwilderter Park über den ganzen Straßenzug erstreckte.
»Wieso heißt diese Straße eigentlich blubbernde Quelle? Sie führt durch die halbe Stadt, aber Wasser hab ich nirgendwo gesehen.« Inge hatte ein unerschöpfliches Reservoir an Fragen, mit denen sie Sanmao löcherte, und fast immer hatte er eine Antwort für sie parat. Offenbar hatte er Gefallen an seiner Rolle als Sprach- und Fremdenführer gefunden.
»Ich zeig sie dir gleich, allerdings blubbert da schon lange nichts mehr. Ganz früher soll die Quelle mal heilkräftig gewesen sein, deshalb hat man den Tempel dort erbaut, aber sie ist längst versiegt.«
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