Torte mit Staebchen
gegen sein Gefährt stemmen. Inge verstand jetzt, warum sich das Wort Kuli aus den Schriftzeichen für »bitter« und »Kraft« zusammensetzte. Doch solange sie noch in Reichweite des japanischen Soldaten waren, wagte sich Inge nicht von ihrem Sitz. Unten angelangt passierten sie den britischen Wachtposten, ein Zeichen, dass sie sich im Internationalen Viertel befanden. Unwillkürlich atmete Inge auf.
Ein kurzes Stück ging es den Bund entlang, dann bogen sie an dem Hotel mit dem grünen Spitzdach nach rechts in die Nanking Road. Hier herrschte nicht weniger Betrieb als drüben auf der anderen Seite des Soochow Creek, aber er war von ganz anderer Art. Vornehme chinesische Damen in langen, geschlitzten, seitlich geknöpften Seidenkleidern, elegante Europäerinnen, denen chinesische Bedienstete gut gefüllte Einkaufstaschen und verschnürte Pakete nachtrugen, sowie Männer aller Nationalitäten, die – ganz gleich ob sie ein langes blaues Gewand, Turban oder dunklen Anzug trugen – eilends ihren Geschäften nachgingen. Inge erinnerte sich, dass Frau Schwab die Nanking Road als Schanghais wichtigste Einkaufsstraße bezeichnet hatte. Abgesehen von den Fußgängermassen musste der Kuli hier auch noch der Tram, dem Oberleitungsbus und zahlreichen Limousinen ausweichen.
Sie folgten der Straße, bis sich links ein großes, freies Oval auftat, gesäumt von vornehmen Hotels und Geschäftshäusern in westlichem Baustil. Das wardie Pferderennbahn mitten im Zentrum der Stadt, an der sie ein Stück entlangfuhren. Gleich darauf war die Straße beiderseits wieder von Ladenfassaden umschlossen, die mit chinesischen Ladenschildern und bunten Stoffbannern warben. Sie folgten den Straßenbahnschienen bis zu einer großen Kreuzung, wo der Kuli seinen gleichmäßigen Trab verlangsamte. An der Straßenecke ragte zur Linken ein mehrstöckiges Backsteingebäude mit weißen Fenstereinfassungen auf, seine Fassade war zur Kreuzung hin abgerundet und von einem riesigen Kinoplakat geziert. Unter dem küssenden Hollywood-Liebespaar stand in Neonschrift »Uptown Theatre«. Ein paar Meter weiter hielt die Rikscha vor den Auslagen einer Konditorei. Über der Eingangstür hing das Schild »Café Federal«, daneben zwei Schriftzeichen, die sich aus vielen winzigen Strichlein zusammensetzten: 飛 達 .
»Bubbling Well Road 1199«, verkündete der Fahrer, das Nummernschild am Hauseingang bestätigte seine Aussage.
Jetzt ging es ans Bezahlen. Inge wiederholte ihre Frage nach dem Preis: »
Duōshao qián?
«, während der Vater die abgegriffenen chinesischen Banknoten zückte, die sie im Heim getauscht hatten. Er reichte dem Fahrer so viele, wie dieser Finger in die Höhe reckte.
»
Xièxie
, master, missy.
Zàijiàn
.«
Auch Inge verabschiedete sich mit einem »
zàijiàn «
, obwohl sie bezweifelte, dass sie den Mann in dieser riesigen Stadt jemals »wiedersehen« würde. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit von dem Caféhaus gefesselt,beim Anblick der Auslagen lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
»Da gibt’s ja Sachertorte und Schwarzwälder Kirsch!«
Doch mit der süßen Erinnerung an zu Hause kamen auch die Bilder von den zerschlagenen Schaufenstern des väterlichen Cafés in Brandenburg. Plötzlich wusste Inge wieder, warum sie hier war. Entschlossen hakte sie sich bei ihrem Vater unter. »Aber längst nicht so schön wie deine,« versicherte sie ihm. Dann betraten die beiden mit dem Klingeln der Ladenglocke das Geschäft.
Im Erdgeschoss befand sich die Konditorei; aus einer großen gläsernen Vitrine wurde Kuchen verkauft, den man mitnehmen oder ins Café im ersten Stock bestellen konnte. Der große, hagere Mann mit Hut und dunklem Anzug und das Mädchen mit den blonden Zöpfen fielen hier nicht weiter auf. Die Gäste bestanden etwa zur Hälfte aus Chinesen, zur anderen aus Langnasen, ebenso gemischt war das Personal. Wilhelm Finkelstein ließ seinen Blick prüfend über Einrichtung und Warenangebot schweifen. Da er keine Anstalten machte, etwas zu kaufen, fragte ihn ein chinesischer Kellner, der gerade mit einem Tablett in den ersten Stock unterwegs war: »Would you like to drink a cup of coffee upstairs, Sir?«
»No, thank you, I want to talk to Mr. Fiedler, please.«
»Just a moment, Sir, I’ll get him for you.«
Inge war beeindruckt, sie hatte ihren Vater noch nie Englisch sprechen hören, und es klang erstaunlich gut. Wie viele Sprachen musste man eigentlich beherrschen,um in dieser Stadt zurechtzukommen? Während Inge sich
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