Torte mit Staebchen
konnte Inge die verschachtelten Dächer aus gelb glasierten Ziegeln mit den aufgewölbten Giebeln schon sehen, ein unbekannter, süßlich-harziger Geruch stieg ihr in die Nase. Sie schnupperte.
»Was du da riechst, sind
joss-sticks
– Räucherstäbchen, die die Gläubigen im Tempel anzünden. Deshalb heißt er auf Pidgin ja auch
›joss-house‹ «
, erklärte Sanmao. Doch bevor er seinen Schützling durch dasgroße Tor treten ließ, zog er sie zu dem Grünstreifen in der Straßenmitte, wo sich eine kleine gemauerte Einfriedung befand, an allen vier Ecken von steinernen Löwen bewacht. Chinesische Löwen, das war Inge bereits aufgefallen, sahen allerdings eher aus wie kleine Hunde mit Lockenfrisur.
Neugierig beugte sie sich über die Mauer, zog die Nase aber sofort wieder zurück. »Bah, das stinkt!« Sie blickte in einen Schacht, auf dessen Grund Schlamm und fauliger Müll lagen.
»Da hast du deine blubbernde Quelle«, lachte Sanmao.
»Ist ja eklig. Jetzt brauch ich dringend so einen
jossstick.
«
Sanmao nahm sie bei der Hand und stieg mit ihr über die hohe Holzschwelle am Eingang des Tempels. Gleich darauf standen sie vor einer Mauer, die sie erst umrunden mussten, bevor sie in den Tempelvorhof gelangten.
»Das ist ja wie beim Hindernislauf. Einmal drüber, einmal außen rum – die machen’s den Tempelbesuchern nicht gerade leicht«, bemerkte Inge.
»Damit sollen die bösen Geister abgeschreckt werden, die können nämlich nicht um die Ecke gehen und auch nicht über hohe Schwellen steigen.«
»Wenn die sich so leicht ausbremsen lassen, können sie nicht sehr gefährlich sein«, kicherte Inge, doch sie verstummte sofort, als Sanmao ihr ein »Pssst« zuzischte. Hatte sie was Falsches gesagt?
»Sieht ein Kamel und hält es für ein Pferd mit Höckern«, murmelte ihr Begleiter. Was sollte das nunwieder heißen? Doch Sanmao, der von seinen Eltern immer gut mit Taschengeld ausgestattet war, steuerte bereits auf einen der vielen Stände im Vorhof des Tempels zu, wo er ein Bündel Räucherstäbchen kaufte. Interessiert inspizierte Inge das Angebot: auf Draht aufgefädelte weiße Blüten, die einen betörenden Duft verströmten, vielfältige Amulette an roten Seidenkordeln, aus Silber- und Goldpapier gefaltete kleine Geldbarren und dicke Packen mit Geldscheinen – ob die echt waren?
Das Ganze glich eher einem Jahrmarkt und hatte nichts von der Ehrfurcht gebietenden Kühle der Gotteshäuser, die sie aus Brandenburg kannte. Hier brodelte das Leben, und die aus Holz geschnitzten Götter – oder waren es Göttinnen? –, die in der Haupthalle des Tempels thronten, schienen durchaus menschliche Bedürfnisse zu haben. Inge beobachtete, wie die Gläubigen ihnen Teller mit ordentlich aufgetürmten Früchten und Süßigkeiten hinstellten, dazu kleine Schälchen mit Schnaps. Solche Götter waren ihr sympathisch: die hatten Hunger und Durst, brauchten Geld und liebten Wohlgerüche.
Inge hatte jede Scheu vor den dunklen Gesichtern abgelegt und schwenkte, Sanmaos Beispiel folgend, ihre glimmenden Räucherstäbchen vor den einzelnen Figuren, als Dank für die Erfüllung ihres Wunsches. Sie mussten schon viele Wünsche erfüllt haben, denn sie waren ganz schwarz von all der qualmenden Zuwendung.
Was sie da gerade machten, sei ein
bàibài
, erklärte Sanmao. Nachdem sie ihre Runde beendet und alleGötter etwas von dem wohlriechenden Rauch abbekommen hatten, steckten sie die glimmenden Stängel in das weiche Aschebett des riesigen, bronzenen Räucherfasses. Die duftenden Rauchschwaden, die von ihm aufstiegen, hüllten den gesamten Hof ein.
»Jetzt musst du dir was von dem Rauch ins Gesicht wedeln, damit du selber auch geschützt bist.«
Inge fächelte sich mit beiden Händen den Sandelholzduft ins Gesicht.
Jetzt hatte sie einen chinesischen Namen und den Segen der Götter aus dem Kietz. Inge wusste, dass sie allen Grund hatte, dankbar zu sein. Sie war auf der richtigen Seite der Garden Bridge gelandet. Aber zuvor hatte sie einen Blick auf die andere Seite getan, in das von den Japanern zerbombte und besetzte Hongkou, wo arme Chinesen und mittellose Neuankömmlinge auf engstem Raum leben mussten; sie hatte die verstümmelten Bettler und die verstörten Flüchtlinge mit den tief in die grauen Gesichter gezogenen Hüten gesehen. Und mit jedem weißen Schiff aus Europa wurden es mehr.
»
Xièxie
, ihr Götter! Danke!«
»Und jetzt gehen wir was essen«, unterbrach Sanmao ihre Gedanken. »Am Tempel gibt’s
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