Tortengraeber
als absurd abgetan. Wenngleich sich die Frage stellte, was die brisante Kombination der sterblichen Überreste der Personen Hafner, Vavra, Cerny, Resele und Rad in Gähnmauls Atelier zu bedeuten habe, um so mehr, als der Bildhauer sich nicht unter den Leichen befand, sondern Tage später erschossen, und zwar so professionell wie von eigener Hand, in der Scheune eines aufgelassenen Bauernhofes aufgefunden wurde.
»Unangenehm«, sagte einer der untersuchenden Beamten und traf damit den Punkt. Soweit es nur irgend ging, wurde die Presse im unklaren gelassen, da man meinte, sie würde auf detaillierte Informationen kaum mit der nötigen Selbstbeherrschung reagieren. Schlimm genug, daß ausgerechnet am Tag dieser Katastrophe der bekannte Psychologe und inspirierende Geist so mancher Herrenrunde, Professor Herbart Hufeland, sowie sein Kollege, der Analytiker Wiese, bei mysteriösen Mordanschlägen ums Leben gekommen waren. Ein schwarzer Tag für Wien, der noch einige Zeit in den buntesten Farben beschrieben werden sollte. Dennoch, die Linie der Ermittlungen gab der Minister vor, indem er – en passant, versteht sich – erklärte, er wolle lieber nicht wissen, was alles hinter dieser Affäre stecke.
Daß Birgitta Hafner sich in Gähnmauls Atelier befunden hatte, wurde mit ihrer rührigen Sammlertätigkeit erklärt. Wie auch die Anwesenheit der anderen Personen, welche aber namenlos blieben. Überhaupt hielt sich die Presse erstaunlich zurück. Nicht mit Bildberichten, nicht mit Vermutungen die Sprengfalle betreffend, nicht mit Vorwürfen gegen die Polizeiführung. Aber man verzichtete vollständig darauf, die Achse Hufeland-Hafner zu erwähnen. Unmöglich, sich vorzustellen, daß kein Journalist über deren Freundschaft Bescheid wußte und keiner von ihnen sich an die Entführung der Hafnertochter erinnerte. Handelte es sich also um eine simple, eine ehrenvolle Rücksichtnahme gegen die Hinterbliebenen? War das möglich? War die Presse lange nicht so mitleidlos, wie alle Nörgler dachten?
Die Industrielle Hafner wurde ohne großes Aufheben – die Akten wackelten unauffällig, die Experten von Christie’s sondierten schon mal die bedeutende Sammlung alter Gläser – in der Familiengruft beigesetzt, neben ihrer angeblichen Tochter, und war recht schnell vergessen. Denn welcher Wirtschaftstreibende schillert schon über seinen Tod hinaus?
Cernys und Vavras Ableben blieb gleichsam unbemerkt, die Verwandtschaft desinteressiert. Auch wenn die Explosion enorm gewesen war, das Verschwinden dieser Personen glich dem eines Tropfens, der in die Erde versickert.
Aus der Schweiz kam Anton Resele angereist, um seine tote Gemahlin auf dem Friedhof Heiligenstadt im Grab ihrer Eltern unterzubringen. Seine Trauer ging tief, tiefer als er sich das hätte vorstellen können. Mit einem Mal schien ihm die Schweiz keine Lösung mehr zu sein. Er blieb in Wien, wie man in einem Faß bleibt, um darin zu ertrinken.
Gähnmaul, dem postume Beachtung berufsmäßig zustand, wurde unter einer gewissen feuilletonistischen Anteilnahme zu Grabe getragen. Natürlich vermutete man allgemein, er sei zusammen mit seinen Arbeiten gen Himmel gefahren. Freunde und Kollegen fanden, ein solcher Tod stünde ihm ausgezeichnet zu Gesicht.
Worüber freilich nicht spekuliert werden konnte, war die Frage, was geschehen wäre, hätte Birgitta Hafner darauf verzichtet, den Brief zu öffnen. Eine Frage, die keinen vernünftigen Menschen zu interessieren braucht.
Eine Frage, die durchaus zu interessierten vermochte, war jene nach dem Schicksal Eduard Rads, genauer gesagt nach dem Verbleib seiner Leiche. Der Name Rad tauchte in keinem der Untersuchungsberichte der Polizei auf. Niemand sprach von seinem Tod. Seine Familie, mehr irritiert als verzweifelt, gab eine Vermißtenmeldung auf. Das war es auch schon. Gut möglich, daß die Polizei die Leiche verschwinden ließ, nachdem man in Teilen seines zerfetzten Körpers Projektile entdeckt hatte, was die Annahme zuließ, daß – noch vor dem eigentlichen Desaster – der Abend im Gähnmaulschen Atelier einen unglücklichen Verlauf genommen hatte. Worüber man offensichtlich lieber den Mantel des Schweigens breiten wollte. Um so mehr, da Rads Kontakt zu Hufeland ein allgemein bekannter war. Aber war das ein ausreichender Grund, die Fechtlegende so völlig unerwähnt zu lassen? Faktum: Der gute Rad schien niemandem wirklich abzugehen. Ein Umstand, der ein bezeichnendes Licht auf das Niveau zwischenmenschlicher
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