Tortengraeber
vier Personen schon nicht mehr. Doch fehlte ihnen der Ehrgeiz, Gähnmaul wovon auch immer abzuhalten.
Als erste rührte sich die Glasindustrielle, wechselte auf die Sitzlehne, wo sie sichtlich gelangweilt die Beine übereinanderschlug, einen Spiegel aus ihrer Tasche zog und in diesem ihre Sonnenbrille betrachtete, welche ja glücklicherweise nicht gealtert war. Auch Else Resele erhob sich, sah sich suchend um und betrat schließlich das Nebenzimmer, einen bis zur Decke mit Zeichnungen und Fotos tapezierten Raum. Im einzelnen handelte es sich um Aktdarstellungen, konventionelle wie abstrahierte, mit dünnem Stift oder mit in teigiges Schwarz getauchten Fingern gefertigte, dazwischen Standfotos aus Die Caine war ihr Schicksal , woraus sich ein Mosaik ergab, ein erstaunlich konkretes Bild von Jagdfliegern vor dem Hintergrund eines Himmels, der sich von Wand zu Wand änderte. In einem Lavoir, das wie ein Weihwasserbecken aus der Wand herausstand, wusch sich Else Hände und Gesicht.
Cerny und Vavra gingen gleichzeitig in die Höhe und gaben sich die Hand, wie Männer das in ihrer Ratlosigkeit immer wieder tun. Cerny erklärte sich als Polizist. Vavra brauchte sich nicht zu erklären. Die beiden Männer standen verlegen zwischen Leiche und Tisch, wie Opernsänger, die auf ihren Einsatz warten und währenddessen um einen Ausdruck angestrengter Nachdenklichkeit bemüht sind. Cerny kramte in seiner Tasche.
»Zigarette?« fragte Vavra, erleichtert darüber, daß es etwas zu fragen gab.
Cerny schüttelte den Kopf. Gerne hätte er seine Temperatur festgestellt, griff aber statt dessen nach dem Umschlag, den Gähnmaul zurückgelassen hatte. Drähte oder ähnlich Verdächtiges waren nicht zu spüren. Bloß Papier, kaum mehr als eine gefaltete Seite. Eigentlich ein wichtiges Beweisstück, was auch immer darin geschrieben stand. Aber sein Auftrag war kein kriminaltechnischer, bestand nicht darin, Entwicklungen aufzuhalten, Kollegen zu begünstigen, sondern einen Bericht an Frau Steinbeck zu verfassen. Weshalb er der Adressatin das Kuvert hinhielt. »Gehört Ihnen.«
Birgitta Hafner schob die Brille am Steg ein Stück abwärts und sah über das Gestell hinweg auf das Kuvert.
»Öffnen Sie es nicht«, warnte die von ihrer Waschung zurückgekehrte Resele.
»Und warum nicht?« Hafner zog Cerny den Umschlag aus der Hand. Sie hielt ihn zwischen Zeige- und Mittelfinger in die Höhe, als fordere sie jemanden auf, ihr Feuer zu geben.
»Aberglaube, wenn Sie so wollen«, erklärte Resele und trocknete ihre Hände in einem Geschirrtuch. »Für nicht wenige Leute war das ein schlechter, ein tödlicher Tag. An einem solchen Tag sollte man keine Kuverts öffnen. An einem solchen Tag sollte man nicht einmal mehr in den Postkasten schauen.«
Indem sie die beiden Finger hin und her bewegte, ließ Birgitta Hafner das Kuvert flattern. Deutete ein höhnisches Lächeln an. »Und wie soll ich mir das denken? Wenn ich die Nachricht erst morgen lese, dann wird es eine bessere sein?«
»Ich sagte ja bereits, es ist ein Aberglaube.« Else Resele war nicht wiederzuerkennen, wirkte verkrampft, tatsächlich ängstlich. Jetzt nicht bloß greisenhaft, sondern sterbenskrank.
»Unsinn«, meinte die Hafner, fuhr mit einem scharfen Nagel ihres kleinen Fingers in die Rille und schlitzte das Papier in einem einzigen tödlichen Schnitt von einer Seite zur anderen auf.
Aus der Entfernung sah es beinahe hübsch aus, wie ein verspäteter Silvestergruß, als das Atelier explodierte und in die Wiener Nacht hinausflog. Zur Freude war freilich kein Anlaß, die warnende Stimme der Else Resele ungehört geblieben, die Opferzahl beträchtlich.
Im selben Moment, da Hafner das Kuvert geöffnet hatte, war eine Sondereinheit der Wiener Polizei, von einem anonymen Hinweis aufgeschreckt, in die darunterliegende Wohnung gestürmt, in der sich jedoch nicht die erwarteten Drogenkuriere, sondern ein beträchtliches Sprengstofflager befand. Auch wenn die politisch Verantwortlichen sich mit Schweigen bedeckten und damit vertrösteten, Untersuchungsergebnisse abwarten zu wollen, deren Verlautbarung sich dann hartnäckig in die Länge zog, lag die Vermutung nahe, daß die Beamten in eine Sprengfalle geraten waren. Erste interne Spekulationen darüber, daß die im darüberliegenden Atelier des nicht unbedeutenden Skulpteurs O . A . H . Gähnmaul, bürgerlich Hans Jünger, anwesenden und infolge der Explosion getöteten Personen die Explosion zu verantworten hatten, wurden rasch
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