Tortengraeber
Beziehungen im Wien vor der Jahrtausendwende wirft. Menschen verschwanden, als hätten sie nie existiert. Sogar ehemalige Staatsmeister.
Epilog
Frühling in Wien. Eine erste sogenannte Hitzewelle. Nach dem Winter konnte man endlich über etwas Neues stöhnen. Dennoch trieb es die Leute auf die Straße, zumindest jene, die froh waren, ihre Sommergarderobe ausführen zu können. Ein Volk von Blinden, hätte man meinen können. Oder von Albinos. Kaum einer, der keine schwarzen Gläser vor den Augen hatte.
Nicht alle waren freiwillig auf der Straße. Auch nicht der Mann mit der verbeulten Hose und dem karierten Hemd unter einer Lederjacke, von der ein Laie nicht sagen konnte, ob sie schäbig oder teuer oder beides war. Nun, sie war schäbig. Der Mann führte seit mehr als zwei Monaten ein obdachloses Leben, hatte unter Brücken geschlafen, in Abbruchhäusern, Kanalschächten, in Kartons, eingewickelt in Zeitungspapier. War sich der Ironie bewußt gewesen, nicht selten von verführerischen Immobilienannoncen umhüllt zu sein.
Männerheime hatte er gemieden, ebenso U -Bahn-Stationen. Er hielt sich versteckt. Ohne sagen zu können, vor wem er sich verbarg. Es war ihm unmöglich, zu durchschauen, in welche Sache genau er eigentlich geraten war. Unerfreulich war sie in jedem Fall.
Auch wenn er einen Namen hatte, der einen bedeutungsvollen Klang besaß, so war er bloß ein kleines Rädchen. Er war nie etwas anderes gewesen. Mit seinem berühmten Namensvetter Wedekind verband ihn nur die Tatsache, einmal für dieselbe Firma gearbeitet zu haben wie der berühmte Dramatiker, freilich nicht als Reklamechef des Gewürzmittelherstellers, sondern als österreichischer Gastund Hilfsarbeiter im baden-württembergischen Singen. Auch wenn er also gar nicht für die Reklame, sondern bloß für die Reinigung des Betriebsgeländes zuständig gewesen war, hatte ihn eine abfällige (und wohl auch unberechtigte) Äußerung über die tatsächliche Zusammensetzung der Geschmacksverstärker der klassischen Maggi-Würze seinen Job gekostet. Das war dann auch sein letzter legaler gewesen.
Zurück in Wien stieg er bei einem Freund ein, der einen Autohandel abseits konventioneller Praktiken betrieb. Doch auch hier fiel es ihm schwer, sich mit den Produkten zu identifizieren. Obwohl gelernter Kfz-Mechaniker, bereitete ihm die Verfremdung der Vehikel wenig Freude. Eine erste Festnahme und Verurteilung befreite ihn von der ungeliebten Tätigkeit. Das Gefängnis erlebte er abseits kolportierter Gewalttätigkeiten als einen Ort der Besinnung. Wenn auch nicht in der Art einer kriminalpolitischen Läuterung, so doch als Ruhepause, als innere wie äußere Einkehr. Von Urlaub zu sprechen wäre natürlich zynisch gewesen, der Gefängnisalltag war von gleichermaßen klösterlicher wie betriebswirtschaftlicher Strenge. Dennoch, er schätzte die Verhältnisse. Im Gefängnis kam er wieder zu Atem. Und den braucht ja nun ein jeder Mensch, der – ohne Erbe und ähnliche Vergünstigungen – sich durchs Leben beißen muß.
Was folgte, war die unspektakuläre Laufbahn eines Kleinkriminellen, einer von denen, die Cerny als verfolgungsunwürdige Personen kategorisiert hätte – Scheckbetrug in vernachlässigbaren Größen, Banknotenfälschung als Farce, Diebstahl von Kunstwerken, die für die Allgemeinheit von geringer Bedeutung waren; schließlich gab es in dieser Stadt mehr Jugendstil, als man sich ansehen konnte. Seine Brandlegungen dienten ausschließlich dem Versicherungsbetrug und erfolgten unter Berücksichtigung maximaler Sicherheitsvorkehrungen. Der von ihm in alte Flaschen abgefüllte billige Wein fand sehr wohl ein zufriedenes Publikum. Bei seinen nächtlichen Einbrüchen unterließ er vermeidbare Verwüstungen. Selbst seine Anstrengungen in der Quacksalberei hatten zu keinem wirklichen Schaden geführt. Auch ein zweiter und dritter Knastbesuch brachten ihn nicht um den Verstand. Ein Leben in Routine. Kaum wirkliche Aufregungen. Er konnte zufrieden sein, war es auch. Dann aber der Knick, der ja die meisten von uns in der Blüte ihrer Jahre ereilt. In der Unterwelt gärte es. Wie überall zeigte die Demokratie ihre Schwächen. Konzentrationen allerorts. Kleine Gewerbetreibende waren schlecht gelitten, wurden unsanft bedrängt, sich in den Dienst großer Organisationen zu stellen.
Unser Mann aber, wohl geschädigt aus seiner Zeit bei Maggi, liebte das selbständige Arbeiten, war so naiv zu glauben, er könne bescheiden, unauffällig, am Rande des
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