Tortenschlacht
blinkend vor Görings ehemaligem Reichsluftfahrtministerium an der Ernst-Thälmann-Straße. Die soll wieder in Wilhelmstraße umbenannt werden, nach dem Hohenzollernkaiser, und natürlich gibt es ein Grüppchen von vor allem älteren Demonstranten, das dagegen protestiert. »Gegen MILITARISMUS und MONARCHIE « verkündet ein Transparent, und eine scheppernde Megafonstimme übertönt den lärmenden Autoverkehr an der viel befahrenen Kreuzung.
»Wir meinen, dass es keinen Grund gibt, den Kaiser nachträglich zu verklären«, hallt es zwischen den Häusern wider. »Ohne ihn hätte es die Katastrophe des Ersten Weltkrieges nicht gegeben. Ohne ihn wären die Verträge von Versailles und der Aufstieg Hitlers undenkbar gewesen!«
Ein vom Regen durchweichter Herr mit Hornbrille und Popenbart läuft zwischen den sich stauenden Autos entlang und klatscht nasse Flugblätter auf die Windschutzscheiben. »SCHLUSS MIT GESCHICHTSKLITTEREI« lese ich noch, bevor es vom unablässig arbeitenden Scheibenwischer gnadenlos beiseitegeknüllt wird.
»Die vergessen, dass mit dem Straßennamen nicht Wilhelm Zwo, sondern Eins geehrt werden soll«, erklärt Hünerbein und grinst, »der Reichsgründer von 1871.«
»War das nicht Bismarck?« Ich starre in den Regen hinaus und bete innerlich, dass Hünerbein recht hat und mein Töchterchen zu Hause ist. Vielleicht hat sie uns was gekocht, um mich milde zu stimmen. Aber ich könnte ihr sowieso nicht böse sein. Viel zu froh wäre ich, wenn sie nur da wäre.
»Bismarck war sicher die treibende Kraft dahinter«, nickt Hünerbein und setzt kopfschüttelnd hinzu: »Und jetzt hat es unsere Birne auch in die Geschichtsbücher geschafft. Ein Kanzler der Einheit. Ausgerechnet Kohl. Hättest du das je gedacht?«
»Nee«, erwidere ich. »Aber der Mensch wächst mit seinen Aufgaben.«
»Genau, wie wir auch.« Hünerbein biegt rechts in die Anhalter Straße ein und vor der Ruine des Anhalter Bahnhofs wieder links in die Stresemannstraße. »Was uns nicht umhaut, macht uns stark, verstehste?« Es geht die Möckernstraße hoch durch Kreuzberg. »Und deine Tochter lebt! Das spüre ich …«, er klopft sich gegen die massige Brust, »… ganz tief hier drin. Die stirbt nicht in so ‘ner abgerockten Besetzerruine, vergiss es, deine Melanie doch nicht!«
Recht hat er, denke ich, es ist Quatsch, das überhaupt in Erwägung zu ziehen. Melanie ist nicht dumm, geht immerhin aufs Gymnasium. Die hat das ganze Leben noch vor sich, das wirft die nicht einfach weg. Sie ist nicht mehr der kleine strubbelige Ostpunk, der am Wochenende nach dem Mauerfall plötzlich in meiner Wohnung stand. Im Gegenteil: In den knapp elf Monaten bei mir hat sie sich gemausert. Das Haar ist länger geworden, schöne, dunkle Locken wie bei Monika, auch wenn die eine oder andere grüne oder lila Strähne immer noch nicht fehlen darf, und der weitaus größere Teil meines Kleiderschrankes ist mit ihren Sachen belegt. Unzählige Shirts, Pullover, Jacken, zig verschiedene Schuh- und Stiefelpaare. Offenbar schminkt sie sich inzwischen sogar. Wimpertusche, Kajal- und Lippenstifte im Bad lassen zumindest darauf schließen.
Nee, meine Tochter hängt nicht bettelnd – »Haste mal ‘ne Mark?« – mit zotteligen Hunden an U-Bahnhöfen rum und muss in sogenannten »instandbesetzten« Ruinen schlafen – die achtet auf ihr Aussehen und hat bei mir ein schönes Zuhause …
Doch dann höre ich wieder die Stimme des Brandermittlers: Molotowcocktails – Feuer breitete sich explosionsartig aus – Wer in den oberen Etagen war, hatte keine Chance …
Nein, aufhören, denke ich, während mir die erneut aufkommende Angst den Brustkorb zusammendrückt, ich will das nicht! Gott, bitte: Lass meine Tochter am Leben sein!
Ich brauche Luft, kurbele hastig die Scheibe herunter, atme tief ein. Wir fahren die Yorckstraße hoch, der Regen schlägt mir ins Gesicht.
»Dir geht’s nicht gut, wie?« Hünerbein sieht mich mitfühlend an.
Ich schüttele den Kopf. Goebenstraße, Pallasstraße, Hohenstauffenstraße … Hoffentlich ist Melanie zu Hause, lieber Gott, lass das Kind zu Hause sein! Tu mir das nicht an!
»Bestimmt ist sie da«, versichert mir Hünerbein, »sie wird versucht haben, dich im Büro zu erreichen, aber wir waren ja die ganze Zeit auf dem Helmholtzplatz.«
Er blinkt links, es geht die Martin-Luther-Straße hinunter. Nur noch wenige Meter.
»Siehste?« Hünerbein deutet hoch zu meiner Wohnung an der Ecke Belziger. »Da brennt schon
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