Tortenschlacht
Blick auf die besetzten Häuser am Helmholtzplatz. Mittig erhob sich die rauchende Ruine. Man sah Feuerwehren und Streifenwagen der Volkspolizei.
»Das ist ein ganz großer Mist, Rudi!«
Rüdiger Bentzsch, ein untersetzter Mittvierziger in einem etwas zu eng sitzenden Anzug, weitete nervös den Krawattenknoten. »Da schafft jemand vollendete Tatsachen, fürchte ich.«
»Uns läuft die Zeit davon! Die Verträge sollten längst unter Dach und Fach sein!«
»Mensch, Siggi …« Bentzsch hob die kurzen Arme. »… die diskutieren alles ewig im Plenum. Die verstehen nicht, warum sie überhaupt Verträge brauchen. Das sind Anarchos, begreif das endlich …« Er sprach nicht weiter, schüttelte nur resigniert den Kopf. Ihm war völlig klar, dass sein ehemaliger Vorgesetzter etwas gut bei ihm hatte. Nach der Auflösung des Amtes für Nationale Sicherheit war es Siegbert Meyer gewesen, der ihn rechtzeitig aus der Schusslinie geholt und ihm den Posten als Abteilungsleiter der Kommunalen Wohnungsverwaltung Prenzlauer Berg verschafft hatte. Der Vorgänger war in den Westen gegangen, und die Stelle war vakant. Harmlose Verwaltertätigkeit. Man verschwand praktisch in Unauffälligkeit. Ideal, um jeden politischen Sturm abzuwettern. Abtauchen, hieß es. Warten, bis sich der Pulverdampf verzogen hat.
So hätte es weitergehen können, doch im April kamen die Hausbesetzer. Seitdem gab es Zoff im Kiez, und Bentzsch musste immer häufiger aus der Deckung. Er hatte Angst. Um sich, seine Frau und die Kinder. Immer wieder kam es zu spektakulären Prozessen gegen ehemalige Angehörige der Staatssicherheit, Kollegen wurden verraten, denunziert, bedroht. Er hätte längst abhauen sollen. Weit weg, nach Chile zum Beispiel. Dahin gab es gute Verbindungen. Die Unidad Popular hatte die Solidarität und die Hilfe der Genossen in der DDR nach dem Putsch im September ’73 nicht vergessen.
»Ich hab dir ein Ticket nach Santiago versprochen«, sagte Siegbert Meyer, als hätte er die Gedanken seines Genossen gelesen. »Aber vorher brauchen wir für die Besetzer da drüben eine vertragliche Grundlage. Und zwar schnell.« Er klopfte ihm aufmunternd auf den Arm und winkte der Frau am Tresen. »Rosie, machste noch zwei?«
»Hier geht doch sowieso alles vor die Hunde«, seufzte Bentzsch leise, »am Dritten haben sie uns alle am Arsch. Die machen kurzen Prozess mit uns, da wird uns noch Hören und Sehen vergehen.«
»Unsinn. Die deutsche Einheit wird uns retten, Rudi. Zu deiner Beruhigung …« Meyer nickte der Kellnerin dankend zu, als sie die Schnäpse auf den Tisch stellte. »… wir haben nicht umsonst jahrzehntelang Genossen an den entscheidenden Stellen platziert. Wir wussten doch immer, dass es schiefgehen kann. Noch sind wir hier diesen ganzen durchgeknallten Bürgerrechtlern ausgeliefert, das ist richtig. Die wollen Rache, die arbeiten sich jetzt an uns ab. Aber mit der Einheit wird sich das Kräfteverhältnis wieder verschieben.« Er hob sein Glas. »Drüben haben wir unsere Leute überall.«
»Die werden irgendwann enttarnt«, bangte Bentzsch.
»Sicher«, nickte Meyer, »einige schon, das gehört zum Spiel. Aber die wichtigen Leute halten still. Die haben zu viel zu verlieren.« Er lächelte und stieß mit Bentzsch an. »Wir haben sie an den Eiern, Rudi.«
Die Männer tranken und setzten die Gläser wieder ab.
»Der Kapitalismus ist ein korruptes System«, sinnierte Meyer und lehnte sich zurück. »Was völlig natürlich ist, alles dreht sich ums Kapital. Es ist wie beim Pokern: Nur wer genug Reserven hat, gewinnt.« Er beugte sich vor. »Überleg doch mal: Unsere Schulungen in all den Jahren waren nicht umsonst. Die umfassende Analyse des Feindes kommt uns auch als Besiegte zupass. Wir wissen, wie der Kapitalismus funktioniert, das verstehen wir besser als diese ganzen studierten Betriebswirtschaftler im Westen. Dialektik, Materialismus, all das, was wir von der Pike auf gelernt haben, ist doch für die ein böhmisches Dorf. Und wir werden ihnen auch bei der Gewinnmaximierung voraus sein. Wir brauchen mehr Kapital. Deshalb habe ich dich in die KWV gesetzt. Du bist unser Mann am Immobilienmarkt, Rudi, also mach dir nicht ins Hemd!«
»Diese Punker sind einfach anders drauf!« Bentzsch regte sich auf. »Die vertrauen mir nicht, die glauben, ich will die irgendwie anscheißen. Verträge, argumentieren sie, würden den Zusammenhalt der Gruppe gefährden. Was denkst du, was die da veranstaltet haben auf ihrem Plenum! Die denken, ich
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