Total Recall
meinen Spaß. Am nächsten Morgen war in der Zeitung ein Bild zu sehen, wie ich in meinen kurzen Hosen auf einer Baustelle stand, wo mich die in der Kälte dicht beieinanderstehenden Bauarbeiter staunend betrachteten.
Nach allen möglichen Anstrengungen und Aktionen konnten wir die Zahl der Mitglieder schließlich innerhalb eines Jahres verdoppeln. Wir hatten stolze dreihundert Kunden – in einer Stadt mit über einer Million Einwohner. Albert nannte Bodybuilding die Subkultur einer Subkultur. Immer wieder diskutierten wir darüber, warum der Sport nicht bekannter war. Wir dachten, es müsse an der Mentalität der Bodybuilder liegen. Es waren Einsiedler, die sich unter einem Panzer von Muskeln verstecken. Sie machten alles heimlich und trainierten in unterirdischen Verliesen und kamen nur heraus, wenn ihnen ihre Muskeln ein Gefühl von Sicherheit gaben. In der Geschichte hatte es berühmte Kraftsportler gegeben, etwa den aus Ostpreußen stammenden Eugen Sandow, der als der Vater des modernen Bodybuilding gilt, oder Alois Swoboda – doch das war um die Jahrhundertwende gewesen, und seitdem war niemand nachgerückt. Keiner der heutigen Bodybuilder hatte ausreichende Entertainer-Qualitäten, um unseren Sport wirklich populär zu machen.
Die Wettkämpfe, die in München stattfanden, lieferten dafür die traurige Bestätigung. Sie fanden nicht in Bierlokalen statt wie früher zu Zeiten der Kraftakrobaten, sondern in den Studios, wo es nur nackte Wände und einen kahlen Raum gab, in dem ein paar Stühle für die Zuschauer standen, oder in Festhallen auf einer kahlen Bühne. Für ein bisschen mehr Atmosphäre hätte man wenigstens ein paar Vorhänge und Fahnen gebraucht, außerdem eine gute Kapelle und einen fähigen Moderator. Aber das gab es in München nicht – ausgerechnet hier, in einer Stadt voller Menschen, Leben und Unterhaltung.
Albert und ich hatten die Idee, die Bodybuilding-Wettkämpfe wieder in Bierlokalen zu veranstalten, wo das Publikum bereits vorhanden war, wie in früheren Zeiten. Wir trieben ein bisschen Geld auf und erwarben die Veranstaltungsrechte für die Ausscheidung um den Titel des Mister Europa 1968. Dann wandten wir uns an den Inhaber eines Lokals, das uns gefiel, und fragten: »Wie wäre es, wenn hier Bodybuilder auftreten würden?« Wir einigten uns darauf, dass wir den vorderen Teil des Lokals direkt an der Bühne mieten und dort Sitzreihen für zahlende Zuschauer aufstellen würden, während im hinteren Teil die üblichen langen Tische stehen würden, wo die Gäste wie üblich sitzen durften, ohne Eintritt zu bezahlen.
Der Wettkampf sollte ein Spektakel werden. Die überzeugten Anhänger zahlten Eintritt und saßen vorn, die anderen Gäste konnten Bier trinken, Spaß haben und vielleicht Interesse am Sport finden. Aufgrund des ungewöhnlichen Orts sprach sich die Veranstaltung viel besser herum, und es kamen über tausend Zuschauer, während es im Vorjahr nur ein paar hundert gewesen waren. Natürlich luden wir auch die Presse ein und sorgten dafür, dass den Journalisten erklärt wurde, was sie zu sehen bekamen, damit sie vernünftige Artikel schrieben.
Die Veranstaltung hätte auch ein Misserfolg werden können. Wir hätten zu wenig Karten verkaufen können, oder jemand hätte eine Schlägerei vom Zaun brechen können, wäre womöglich auf die Bühne gesprungen und hätte Mister Europa einen Bierkrug über den Schädel gezogen. Doch stattdessen drängten sich begeisterte Zuschauer vor der Bühne, jubelten und sorgten für Stimmung, während die Gäste weiter hinten fröhlich tranken und anstießen. Damit setzten wir für die deutschen Bodybuilding-Wettkämpfe ganz neue Maßstäbe.
Der Wettkampf um den Titel des Mister Europa hinterließ vor allem bei den Bodybuildern aus Osteuropa einen starken Eindruck, weil zur gleichen Zeit sowjetische Truppen in der Tschechoslowakei einmarschierten. Nur wenige Tage vor dem Wettkampf machten die sowjetischen Panzer den Reformen des Prager Frühlings ein Ende. Als die Nachricht bekannt wurde, nahmen wir Kontakt zu Bodybuildern aus der Tschechoslowakei auf und holten viele mit dem Auto an der tschechischen Grenze ab. Die Tschechoslowaken waren in diesem Jahr außergewöhnlich zahlreich vertreten, weil sie die Veranstaltung als Vorwand für ihre Flucht benutzten. Von München reisten dann viele weiter in die USA oder nach Kanada.
Ich fragte mich, wann ich wohl endlich in die USA kommen würde. Ein Teil von mir beschäftigte sich stets mit
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