Total Recall
war mir der Erfolg gewiss.
Nur weil ich in London zweimal den Titel des Mister Universum gewonnen hatte, war ich noch lange nicht der beste Bodybuilder der Welt. Mittlerweile gab es zu viele Titel und Wettkämpfe, die sich überschnitten, und nicht jeder Bodybuilder nahm an allen teil. Wenn ich der Beste sein wollte, musste ich wirklich besser sein als die Champions, deren Poster ich aufgehängt hatte: Reg Park, Dave Draper, Frank Zane, Bill Pearl, Larry Scott, Chuck Sipes, Serge Nubret … Sie waren meine großen Vorbilder, und ich sagte mir: »Diese Leute muss ich am Ende schlagen.« Dank meiner Siege spielte ich nun in der gleichen Liga, aber ich stand immer noch am Anfang und musste mich erst noch behaupten.
Ganz oben auf dem Siegerpodest – dort, wo ich mich in ferner Zukunft sah – stand Sergio Oliva, ein siebenundzwanzigjähriger kubanischer Emigrant, der 104 Kilo auf die Waage brachte. Die Bodybuilding-Zeitschriften nannten ihn mittlerweile nur noch den »Mythos«. Seinen letzten Wettkampf im Herbst hatte er ohne Gegenkandidaten bestritten. Die vier anderen Bodybuilder, die zur Ausscheidung um den Titel des Mister Olympia eingeladen worden waren, waren gar nicht erst angetreten.
Seine Lebensgeschichte war wirklich ungewöhnlich. Sergios Vater hatte auf Kuba in der Zeit vor Castro auf den Zuckerrohrfeldern gearbeitet. Als die Revolution ausbrach, meldete sich Sergio zusammen mit seinem Vater zu Batistas Armee. Nach Castros Sieg konzentrierte sich Sergio auf den Sport. Er war Gewichtheber, ein ganz anderes Kaliber als ich, und führte die kubanische Mannschaft bei den Zentralamerika- und Karibikspielen 1962 in Kingston an. Er hätte auch 1964 an den Olympischen Spielen teilgenommen, wenn er nicht aufgrund seiner Abneigung gegen Castro in die USA geflohen wäre. Ein Großteil seiner Mannschaftskameraden tat es ihm nach. Er war außerdem ein fantastischer Baseballspieler, was ihm zu seiner schmalen Taille verhalf. Den Schläger zu schwingen war das perfekte Training für die Hüften.
Ich hatte Sergio in Miami beim Mister-Universum-Wettbewerb kennengelernt, wo seine Posing-Kür das Publikum zu Begeisterungsstürmen veranlasste. Eine Bodybuilding-Zeitschrift schrieb hinterher, seine Posen hätten Beton zum Bersten gebracht. Ohne Frage war Sergio mir immer noch weit überlegen. Er war viel besser definiert und hatte Pfund für Pfund mehr Muskelmasse und -intensität. Außerdem besaß er die bei Bodybuildern seltene Fähigkeit, fantastisch auszusehen, auch wenn er nur entspannt dastand. Er hatte die beste Silhouette, die ich je gesehen hatte: eine perfekte V-Form mit sehr breiten Schultern und einer von Natur aus schlanken, runden Taille und schmalen Hüften. An Sergios Markenzeichen, die »Victory-Pose«, wagten sich viele Bodybuilder im Wettkampf gar nicht heran. Er stand dabei einfach mit geschlossenen Beinen vor den Zuschauern und streckte die Arme V-förmig nach oben. Dabei war der Körper völlig exponiert: die vom Gewichtheben mächtigen Oberschenkel, die schmale Taille, die fast perfekten Bauchmuskeln, der Trizeps und der Serratusmuskel, auch Boxermuskel genannt.
Ich war entschlossen, diesen Mann irgendwann zu besiegen, aber ich war noch weit von dem Körper entfernt, den ich dafür benötigte. Als ich nach Amerika kam, war ich wie ein Rohdiamant mit hundert Karat. Alle staunten und sahen mich bewundernd an. Aber ich war noch ungeschliffen und für eine Ausstellung noch nicht bereit, zumindest nicht gemessen an amerikanischen Maßstäben. Einen Körper aufzubauen, der absolute Weltklasse hat, dauert normalerweise mindestens zehn Jahre, und ich trainierte erst seit sechs Jahren. Aber ich machte schnell Fortschritte und war stark, daher sagten die Leute: »Schau dir den Jungen an. Wie massig er ist. Ist das nicht unglaublich? Also, für mich hat er das größte Potenzial.« Meine Siege in Europa hatte ich daher nicht nur aufgrund meiner körperlichen Vorzüge gewonnen, sondern auch, weil ich vielversprechend wirkte und den Mut hatte, früh bei einem Wettkampf anzutreten. Doch auf mich wartete noch viel Arbeit.
Das Ideal im Bodybuilding ist die optische Perfektion. Der Körper soll wie eine lebendig gewordene antike griechische Statue wirken. Man modelliert seinen Körper ähnlich, wie ein Bildhauer eine Statue mit dem Meißel bearbeitet. Nehmen wir an, man will mehr Masse und Definition für den hinteren Deltamuskel. Dafür stehen verschiedene Übungen zur Verfügung. Das Gewicht, die Bank oder das
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