Tote erinnern sich (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
meinem Griff.
»Steephen, bitte lass mich gehen!«, bettelte sie. »Ich muss – ich muss! «
Ich zog sie zum Bett hinüber und bat Hansen, mir seine Handschellen zu geben. Er reichte sie mir mit fragender Miene und ich befestigte eine Handschelle am Bettgestell, die andere an Zuleikas schlankem Handgelenk. Das Mädchen wimmerte, leistete aber keinen Widerstand, obwohl mich ihre feuchten Augen stumm anflehten.
Es tat mir in der Seele weh, ihr auf so brutale Weise meinen Willen aufzuzwingen, aber ich verdrängte meine Skrupel.
»Zuleika«, sagte ich sanft, »du bist jetzt meine Gefangene. Der Skorpion kann dir keine Schuld geben, dass du nicht zu ihm zurückkehrst, weil du ja gar nicht dazu in der Lage bist. Noch bevor der Morgen graut, hat seine Herrschaft über dich ein Ende.«
Ich wandte mich Hansen zu und sagte mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete:
»Bleiben Sie hier vor der Tür stehen, bis ich zurückkehre. Lassen Sie unter keinen Umständen einen Fremden herein, wirklich niemanden, den Sie nicht persönlich kennen. Und bei Ihrer Ehre, ich fordere Sie auf, dieses Mädchen nicht gehen zu lassen, ganz gleich, was sie zu Ihnen sagt. Wenn bis zehn Uhr morgen früh weder ich noch Gordon zurückgekehrt sind, dann bringen Sie Zuleika zu dieser Adresse – das ist eine Familie, mit der ich einmal befreundet war und die sich um ein heimatloses Mädchen kümmern wird. Ich gehe jetzt zu Scotland Yard.«
»Steephen«, jammerte sie unterdessen, »du gehst zum Versteck des Meisters. Du wirst getötet werden. Schick die Polizei, geh nicht selbst!«
Ich beugte mich über sie, nahm sie in meine Arme, fühlte ihre Lippen auf meinen. Dann riss ich mich los.
Der Nebel tastete mit gespenstischen Fingern nach mir, Fingern so kalt wie von Toten, als ich die Straße hinunterrannte. Ich hatte keinen Plan, aber allmählich reifte eine Idee in meinem Bewusstsein und begann, in dem Kessel zu kochen, der mein Gehirn war. Ich blieb stehen, als ich einen Streifenpolizisten sah, winkte ihn heran und kritzelte ein paar Zeilen auf ein Stück Papier, das ich aus einem Notizbuch gerissen hatte. Ich reichte ihm das Blatt.
»Bringen Sie das zu Scotland Yard. Es geht um Leben und Tod und hat mit John Gordon zu tun.«
Als der Mann diesen Namen hörte, hob er seine behandschuhte Hand zustimmend. Dass er versprach, sich zu beeilen, hörte ich kaum noch, weil ich bereits weiterrannte. Auf dem Zettel stand, dass Gordon in Soho 48 gefangen gehalten wurde, verbunden mit der Empfehlung, eine Razzia einzuleiten – im Interesse von Gordon war es wohl eher ein Befehl.
Der Grund für mein Handeln war einfach: Ich wusste, die ersten Geräusche, die auf einen Polizeizugriff hindeuteten, würden John Gordons Tod besiegeln. Irgendwie musste ich es schaffen, vorher zu ihm zu gelangen und ihn zu beschützen oder zu befreien – und zwar ehe die Polizei eintraf.
Es schien endlos lange zu dauern, aber dann ragten endlich die düsteren Konturen des Hauses vor mir auf, das sich hinter der Adresse Soho 48 verbarg. Ein gigantisches Gespenst im Nebel. Es wurde spät. Nur wenige Leute wagten sich noch in den Nebel und die Feuchtigkeit hinaus, als ich auf der Straße vor dem bedrohlich wirkenden Gebäude stehen blieb. Hinter keinem der Fenster war ein Licht zu erkennen, weder im Erdgeschoss noch in den oberen Stockwerken. Das Haus schien verlassen zu sein. Aber auch das Versteck eines Skorpions wirkt oft verlassen, bis dann plötzlich der lautlose Tod zuschlägt.
Ich blieb stehen und mir kam ein verrückter Gedanke. Dieses Drama würde so oder so bei Anbruch des Tages zu Ende sein. Die heutige Nacht stellte den Höhepunkt meiner Karriere, den Gipfel meines Lebens dar. Heute Nacht war ich das stärkste Glied in einer seltsamen Kette von Ereignissen. Morgen würde es ohne Belang sein, ob ich am Leben oder tot war. Ich zog die Flasche mit dem Elixier aus der Tasche und sah sie an. Genug für zwei weitere Tage, falls ich sparsam damit umging. Zwei weitere Tage Leben!
Wobei, eigentlich brauchte ich für die vor mir liegende Aufgabe ein Rauschmittel, wie ich noch nie zuvor eines gebraucht hatte. Sie überstieg die Kräfte eines gewöhnlichen Menschen bei Weitem. Wenn ich den gesamten Rest des Elixiers jetzt austrank, hatte ich zwar keine Ahnung, wie lange seine Wirkung anhalten würde, aber für den Rest der Nacht würde es sicherlich reichen. Und meine Beine zitterten, mein Verstand hatte seltsame Perioden völliger Leere. Schwäche an Geist und Körper
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