Tote erinnern sich (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
in dem Haus keine Möbel gegeben, wäre ich zu der naheliegenden Schlussfolgerung gelangt, Kathulos sei geflohen – aber nirgends waren Anzeichen von Flucht zu erkennen. Das war ungewöhnlich, war unheimlich. Ich stand in der großen, von Schatten erfüllten Bibliothek und überlegte. Nein, ich hatte in dem Haus keinen Fehler gemacht. Selbst wenn die Leiche in der Vorhalle nicht gewesen wäre, um stummes Zeugnis abzulegen, deutete doch alles im Raum auf die Anwesenheit des Meisters hin. Da waren die künstlichen Palmen, die lackierten Trennwände, die Wandbehänge. Selbst der Götze fehlte nicht, obwohl diesmal kein Weihrauch vor ihm aufstieg. Die Wände säumten lange Regale mit Büchern mit seltsamen wertvollen Einbänden – Bücher in jeder Sprache der Welt, wie ich mit wenigen Blicken feststellte, Bücher über jedes Thema – die meisten unkonventionell und höchst bizarr.
Ich erinnerte mich an den geheimen Zugang im Tempel der Träume und untersuchte den schweren Mahagonitisch, der mitten im Zimmer stand. Aber ich konnte keinen ähnlichen Mechanismus entdecken. Plötzlich stieg brennende Wut in mir auf, primitive, unvernünftige Wut. Ich griff nach einer Figur auf dem Tisch und schmetterte sie gegen die von Regalen gesäumte Wand. Der Lärm, mit dem sie in Stücke sprang, würde doch ganz bestimmt die Bande aus ihrem Versteck locken. Aber die Folge meines Ausbruchs war viel verblüffender.
Die Figur prallte gegen eines der Regale und im gleichen Augenblick schwang ein ganzer Abschnitt samt seiner Bücherlast lautlos zur Seite und legte eine schmale Türöffnung frei. Wie schon bei der anderen Geheimtür führte auch hier eine Reihe von Stufen in die Tiefe. Zu jeder anderen Zeit wäre mir bei dem Gedanken, dort hinunterzugehen, ein Schauder über den Rücken gelaufen. Erst recht, wenn ich an die frisch in mein Gedächtnis eingebrannten Schrecken dachte, die in dem anderen Tunnel gelauert hatten. Doch von dem Elixier angestachelt, zögerte ich nicht einen Augenblick.
Da sich niemand im Haus aufhielt, mussten sie sich irgendwo im Tunnel oder in einem Schlupfwinkel, zu dem dieser führte, befinden. Ich trat durch die Tür und ließ sie offen stehen. So konnte die Polizei sie später finden und mir folgen. Allerdings wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich bis zum finsteren Ende dieses Abenteuers auf mich allein gestellt sein würde.
Ich ging eine beträchtliche Strecke nach unten, bis die Treppe schließlich in einen waagerechten Korridor überging, der etwa sechs Meter breit war – eine höchst erstaunliche Tatsache. Trotz der großzügigen Abmessungen war die Decke ziemlich niedrig. Von ihr hingen kleine, seltsam geformte Lampen, die ein schwaches Licht erzeugten. Ich pirschte mich schnell durch den Korridor, wie ein Sensenmann, der seine Opfer sucht. Je weiter ich kam, desto mehr verstand ich die Anordnung. Der Boden bestand aus großen, breiten Fliesenplatten. Die Wände schienen aus mächtigen Blöcken gleichmäßig gesetzter Steine gemauert worden zu sein. Dieser Gang war ganz sicherlich nicht das Werk moderner Tage. Die Sklaven von Kathulos hatten diese Tunnels nie und nimmer gebaut. Ein mittelalterlicher Geheimgang, vermutete ich. Wer hätte gedacht, dass Katakomben unter London liegen, deren Geheimnisse größer und düsterer sind als die von Babylon und Rom.
Ich ging immer weiter und weiter und wusste, dass ich mich jetzt tief unter der Erde befinden musste. Die Luft war feucht und stickig und von den Steinen an Wänden und Decken tropfte es kalt herunter. Gelegentlich sah ich kleinere Seitengänge, die in der Dunkelheit irgendwohin führten, beschloss aber, mich an den größeren Hauptgang zu halten.
Wilde Ungeduld ergriff von mir Besitz. Ich hatte das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein, sah aber immer noch nur feuchte Wände, kahle Fliesen und schwelende Lampen. Immer wieder suchte mein Blick nach gefährlich wirkenden Truhen oder dergleichen – doch ich entdeckte nichts.
Und dann, als ich kurz davor war, in wildes Fluchen auszubrechen, tauchte vor mir in der Dunkelheit eine weitere Treppe auf.
Kapitel 19: Dunkle Wut
Gestreifter Wolf starrt ins Kreisrund
blauäugig voll Verderben.
Der Schuld bewusst das edle Tier
spricht’s: Muss noch einen reißen hier,
sonst naht die Zeit zu sterben!
Talbot Mundy
Wie ein schlanker Wolf eilte ich die Stufen hinauf. Etwa fünf Meter über mir zweigten an einer Art Absatz andere Korridore ab, die dem glichen, durch den ich gekommen war. Die
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