Tote essen kein Fast Food
kletterte von der Leiter. „Außerdem haben wir noch die hölzernen Lockenten auf der Fensterbank. Die sind viel schöner. Und besser abstauben lassen sie sich auch.“ Sie setzte sich neben Martin aufs Sofa und klaubte liebevoll ein Spinnweb aus seinen Haaren.
„Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde …“, sagte Martin düster und ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. „Warum mussten sie davonfliegen?“, fragte er. „Mir schien, bis jetzt haben sie sich hier ganz wohl gefühlt.“
„Weil sie mich nervös machen“, sagte Svea.
„Und weil Mama tote Sachen im Haus nicht mag“, fügte Frida hinzu.
„Das sagt ausgerechnet eine Mumienforscherin“, seufzte Martin.
„Die ihrer Tochter gestattet, einmal wöchentlich schwangere Nattern mit toten Mäusen zu füttern“, ergänzte ich, an den Türrahmen gelehnt. „Vielleicht frisst Marzipan ja auch lecker tote Vögel. An Staubwölkchenparfait mit eingetrübten Glasaugen. Wär doch mal was anderes.“
„Du bist ekelhaft, Fanny“, sagte Frida und streichelte Heinrich über das staubige Gefieder.
Ich betrachtete das Tohuwabohu aus umgekipptem Hocker, Büchern und Fridas Flipflops zu meinen Füßen. Als ich flüchtig die Einbände von Tante Hedis kostbaren Bildbänden scannte, blieb mein Blick an einem Buch hängen, das anders aussah als die anderen. Irgendwie alt. Und düster. Und das mir von irgendwoher bekannt vorkam. Der Titel zeigte eine Luftaufnahme vom oberen Ende Sylts mit List, dem Königshafen und dem Ellenbogen. Es war jedoch keines der üblichen Hochglanzfarbfotos wie sie sonst die zahlreichen Bildbände über Sylt zieren. Das Ganze wirkte wie eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme, die man auf dunkelblauen Grund gedruckt hatte, damit sie nicht ganz so düster aussah. Die Topografie der Insel war deutlich zu erkennen. Ihre charakteristischen Konturen mit den schmalen hellen Strandstreifen zu beiden Seiten zeichneten sich scharf gegen dassie umgebende Meer ab. Ebenso wie der fett gedruckte weiße Schriftzug in der oberen rechten Ecke, querab vom Königshafen. SYLT, stand da, und darüber in etwas kleineren Buchstaben „Die Festung“.
Krass. Volltreffer.
Ich kniete mich neben den Bücherhaufen und tat, als wollte ich ihn wieder ordentlich stapeln. „Harald Voigt“, las ich unten rechts auf dem Umschlag in der Höhe von Mellhörn. „Geschichte und Entwicklung der Insel Sylt unter militärischem Einfluß 1894–1945“. Ich drehte das Buch auf den Bauch. Die Rückseite zeigte den südlichen Zipfel von Sylt mit dem breiten Sandstrand bei Hörnum Odde. Die Maßstäbe der beiden Luftbilder schienen nicht übereinzustimmen, denn das Lister Ende auf der Vorderseite verhielt sich zu Hörnum Odde ungefähr wie ein Flamingobein zu einem Elefantenfuß.
War es denn zu fassen? Die Festung Sylt hatte sich die ganze Zeit genau vor meiner Nase befunden. Wieso war ich nicht gleich darauf gekommen, in Tante Hedis Privatbibliothek danach zu fahnden statt in der öffentlichen Bücherhalle. Und wieso hieß die überhaupt „öffentlich“, wenn sie die meiste Zeit geschlossen war. Dass Tante Hedi dieses Buch besessen hatte, war eigentlich nur logisch. Wer sich für die heimische Vogelwelt mit allen Unter- und Abarten interessierte, dem konnten schließlich vier Seefliegerhorste vor der Haustür nicht komplett egal sein. Zumal sie womöglich auch heute noch den einen oder anderen Nistplatz boten.
Ich schob einen unverfänglichen Bildband zum Thema Sylter Flora und Fauna über meinen historischen Fund und blickte auf. Aber diese Vorsichtsmaßnahme war überflüssig.Keiner achtete auf mich. Svea kniete neben meinem Vater auf dem Sofa und war damit beschäftigt, ihn abwechselnd zu küssen und Staubfäden aus seinem Haar zu zupfen. Wieso war ihnen das eigentlich nicht peinlich in der Anwesenheit ihrer jeweiligen Töchter? Frida schien es egal zu sein. Sie mühte sich, dem armen Heinrich gut zuzureden, der noch immer kopfüber zwischen seinen geflügelten Wohnzimmerkumpels klemmte und sich offensichtlich weigerte, wieder auf die staksigen Beine zu kommen. Mit beiden Händen ruckelte sie an seinem Körper. „Jetzt komm endlich raus da, du Heini“, hörte ich sie schimpfen, als ich bereits mit meiner Beute auf dem oberen Treppenabsatz angekommen war. Leise betrat ich mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Dann verbarrikadierte ich mich für Stunden in der Festung Sylt .
14
„Mann, Moritz, lass meinen iPod in Ruhe … Ähm, ja, hallo
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