Tote essen kein Fast Food
festzuhalten. Wir hörten die Wellen der Nordsee aus der Ferne anrollen und spürten ihre Vibrationen in den Beinen, ohne sie sehen oder ihre Entfernung einschätzen zu können. Ein Frösteln lief mir über den Rücken.
So schnell es ging, folgten wir der Pollerreihe Richtung Norden. Ab und zu hatte sich ein Stück Treibholz zwischen den Zapfen verkeilt oder ein grün oder orange schimmernder Tampen. Eine Person, die sich zwischen den Betonriesen hindurchgezwängt hätte, konnten wir allerdings nirgends entdecken. „Wenn sie schlau ist, hat sie sich mit ihrer Apothekenbeute in einen Strandkorb verzogen“, sagte Jan.
„Vielleicht – vielleicht aber auch nicht.“ Ich versuchte, meinen Schritt zu beschleunigen, und zog Jan hinter mir her. Je weiter wir kamen, desto dichter lagen die Tetrapoden, bis sie sich zu einem breiten Wall aufschichteten, der in einem scharfen rechten Winkel zum Meer hin abknickte.
„Sie wird doch wohl nicht so bescheuert gewesen sein, da rauszuklettern“, stöhnte Jan, als ich begann, mich über die rutschigen Betonklötze Richtung Wasser vorzukämpfen. „Wenn ich das richtig sehe, dann hat die Flut eingesetzt und drängt jetzt mit Macht gegen den Strand. Das ist Wahnsinn, sich da draußen zu verstecken. Vor allem bei dem Wetter.“
„Vielleicht kennt sie sich damit nicht aus. Mit Ebbe und Flut, meine ich. Vergiss nicht, sie kommt aus Friedrichstadt. Das liegt nicht direkt an der Küste.“
„Aber so gut wie“, maulte Jan.
„Oder sie hat sich zwischen diesen Pollern eingeklemmt und kommt nicht mehr raus.“
„Dann würde man sie ja wohl schreien hören, oder nicht?“
„Kommt drauf an. Schließlich will sie nicht entdeckt werden.“ Ich drehte mich zu Jan um, legte einen Zeigefinger vor den Mund und lauschte. Aber außer dem Brausen der See und vereinzelten Möwenschreien war nichts zu hören. „Vielleicht kann sie nicht mehr schreien.“ Ein scheußlicher Gedanke überflutete meine Gehirnwindungen. „Nun komm schon, Jan.“
Quasi auf allen vieren setzten wir unseren mühsamen Weg durch das Tetrapodenlabyrinth fort. Die Poller hatten jetzt sozusagen die Füße im Wasser, und je weiter wir uns nach vorn kämpften, desto tiefer wurde die sie umspülende Nordsee. Geschätzte dreißig Meter weit hatten wir uns schon auf dem Wall vorgearbeitet und bedrohlich klatschten die Wellen gegen den Beton. Der Wind hatte deutlich aufgebrist und weiter draußen trug das Meer garantiert schon Schaumkrönchen, wenn auch unsichtbar durch diese Nebelsuppe. Meine langen braunen Haare flatterten vor meinen Augen herum und erschwerten mir zusätzlich die Sicht. Genervt hielt ich inne und wollte sie mit einem Gummiband aus meiner Jeanstasche zu einem Knoten hochbinden. Da sah ich es. Für einen kurzen Augenblick hatte eine Böe die undurchdringlichen Nebelschwaden vor mir zerrissen und zu Fetzen gebündelt. Wie das Lumpenkleid einer Hexe schwebten sie über der Stelle, wo der steinerne Wall ins Meer tauchte. Für zwei, drei Sekunden konnte ich etwas erkennen.
„Jaaaan!“
Das, was ich sah, ließ mich entsetzt aufschreien: Keine vier Meter vor mir trieb eine weiße Hand auf der Wasseroberfläche und wurde rhythmisch gegen das Holz einer gesplitterten Palette geschlagen, die sich zwischen zwei Tetrapoden verkeilt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Haut aufreißen und Blut aus der Wunde strömen würde. Falls überhaupt noch Blut kam. Ich ließ das Gummiband fallen und deutete auf die Stelle. „Jaaan, da. Schnell.“
Ich weiß nicht, woher, aber ich wusste, dass es Mia war. Ich wusste es einfach. War sie tot? Waren wir zu spät gekommen? War sie hier einsam im Nebel in der Nordsee ertrunken und an diesen monströsen Wellenbrechern zerschmettert worden? Hatte sie einen Anfall gehabt und sich das Rückgrat gebrochen? Oh, bitte, nein. Was für ein Scheiß-Tod. Ich schüttelte mir die Haare aus dem Gesicht. Das durfte einfach nicht sein.
Der Anblick der weißen Hand, die von den Wellen hochgehoben und wieder fallen gelassen wurde wie ein totes Stück Treibholz, spülte eine Adrenalinwelle durch mein Blut. Die Tränen, die mir aus den Augen schossen, spürte ich nicht. So schnell es ging auf dem immer glitschiger werdenden Damm, von dem schleimig grüner Seetang wie der Bart eines Seeungeheuers herabhing und im Salzwasser auf und ab wippte, tastete ich mich weiter, nur den einen Gedanken im Kopf: Bitte, lass sie nicht tot sein. Bitte, bitte nicht!
Verbissen kämpfte ich mich
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